dîhan
Band II, Spalte 634
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dîhanAWB st. v. I, vom 10. Jh. an: gedeihen;
ausrichten, erreichen, glücken, werden (zu),
crescere, proficere, pollere; vorrücken, weiter-
kommen, procedere
Var.: t-; -ieh-, -ihh-;
-en, -in; dien; tien. Mhd. dîhen, nhd. gedei-
hen. Im Frühnhd. erscheint das Simplex deihen
z. B. bei Hans Sachs, B. Waldis, J. Ayrer. Der
Geltungsbereich der einstmals großen ahd.
Wortfamilie ist im Nhd. sehr klein geworden.
Eine Neubildung zu der in der Hochsprache
allein geltenden Präfixbildung gedeihen, die im
17. Jh. das Simplex deihen verdrängt hat, ist
das Part. gediehen mit Beseitigung des gram-
matischen Wechsels (s. u.), während das alte
Part. gediegen ausschließlich adjektivisch ver-
wendet wird.

Splett, Ahd. Wb. I, 135; Schützeichel⁴ 89; Starck-
Wells 98 f.; Graff V, 105 ff.; Schade 102; Heffner,
Word-Index 32; Tatian 470 f.; Sehrt-Legner, Notker-
Wortschatz 104; Otfrid (Kelle) III, 614 f.; Williram
(Seemüller) 81; Ch. Donath, PBB 84 (Halle, 1962),
445 ff.; Lexer I, 432; Benecke I, 329; Dt. Wb. II,
909 f.; IV, 1, 1, 1986. 2020; Dt. Wb.² VI, 564; Kluge²¹
238; Kluge²² 250; Pfeifer, Et. Wb. 516; O. Meisinger,
Zfdt. Mdaa. 3 (1908), 204.

Gegenüber der Hochsprache ist das Verbum simplex
deihen mitsamt Ableitungen in den Mundarten zum
großen Teil noch erhalten: bad., vorarlberg. deihen;
bair. deihen austrocknen und dadurch dichter wer-
den, in einen engeren Raum zusammengehen
; kärnt.
deichn, gedeichn; tirol. dein; rhein. deihen, gedeihen;
südhess., siebenbürg.-sächs. deihen; lüneb. dei’n;
nndd. diehen (dîîn), diegen (mit g als Übergangslaut),
dien. Nur das Partizip, das Präfixverb oder substanti-
vische und adjektivische Ableitungen sind bezeugt im
Falle von: schwäb. digen gediegen; schweiz. ge-, gi-
deihen (neben drüǝjǝ); lothr. deih [ï] m. Gedeihen;
nassau. deihsam Gedeihen bringend; thür. gedeihen;
westf. dêge gediegen, gut.

Schweiz. Id. XII, 1201 ff.; Ochs, Bad. Wb. I, 452.
481; Fischer, Schwäb. Wb. II, 133. 205 f.; Jutz, Vor-
arlberg. Wb. I, 549; Schmeller, Bayer. Wb.² I, 497 f.;
Lexer, Kärnt. Wb. 56; Follmann, Wb. d. dt.-lothr.
Mdaa. 83; Müller, Rhein. Wb. I, 1308 f.; Kehrein,
Volksspr. u. Wb. von Nassau 108; Maurer-Mulch,
Südhess. Wb. I, 1458; Hertel, Thür. Spr.schatz 81;
Schullerus, Siebenbürg.-sächs. Wb. II, 27; Woeste,
Wb. d. westf. Mda. 49; Schambach, Wd. d. ndd. Mda.
41; Kück, Lüneb. Wb. I, 308; Richey, Id. Hambur-
gense 34; Scheel, Hamb. Wb. 697; Mensing, Schles-
wig-holst. Wb. I, 724; A. Senn, JEGP 32 (1933), 517.

An Entsprechungen zu ahd. dîhan aus weiteren
germ. Sprachen kommen vor: as. thīhan, thian
(as. a-thengian ausführen, vollbringen, as. gi-
thungan vollkommen), mndd. dīen, dīgen, di-
jen, dihen; mndl. dīen, diën, dijen, dihen, gedi-
jen, nndl. gedijen (vgl. afries. thigia sw. v.,
nfries. dije); ae. ðēon, ðīon (vgl. mit grammati-
schem Wechsel [ge-]þingan blühen, gedeihen
als Neubildung für ðīon nach ðungun, ae. ge-
þungen gediegen, hervorragend, erwachsen),
me. þēon; got. (ga-)þeihan: < *þinχan- (s. u.).
Nach dem Schwund des Nasals trat *þīχan- in
die Verben mit i-Ablaut über; vgl. mhd. dîhen,
dêch, digen, gedigen. Der grammatische Wech-
sel ist im Nhd. innerhalb des Verbalparadigmas
zugunsten des h ausgeglichen worden.

Fick III (Germ.)⁴ 179 f. 184; Seebold, Germ. st. Verben
512 ff.; Holthausen, As. Wb. 77; Sehrt, Wb. z. Hel.²
600; Berr, Et. Gl. to Hel. 406; Lasch-Borchling,
Mndd. Handwb. I, 1, 403. 424; Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. I, 494. 516; Verdam, Mndl. handwb. 135;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 178 f.; Vries, Ndls. et. wb.
187; Holthausen, Afries. Wb.² 110; Dijkstra, Friesch
Wb. I, 212; Holthausen, Ae. et. Wb. 366. 372; Bos-
worth-Toller, AS Dict. 1051 f.; Suppl. 728; Suppl. II,
61; Stratmann-Bradley, ME Dict.³ 632; Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 493 f.; Lehmann, Gothic Et. Dict. þ-
29; C. C. Uhlenbeck, PBB 27 (1902), 132 f.

Für die Bedeutung gedeihen gibt es bei den au-
ßerhalb des Germ. lautlich vergleichbaren Ver-
ben kaum Entsprechendes. Die Bedeutungen
dicht, dick, fett der germ. Fortsetzungen des
Verbaladj. auf *-to-, *tenkto- (mhd. dîchte;
mndd. dīchte; mndl. dicht[e]; ae. ðīht, me.
thight; aisl. þéttr), machen jedoch einen An-
schluß an lit. tánkus dicht, dicht zusammenste-
hend
wahrscheinlich. Zu dieser Bedeutung pas-
sen die zugehörigen germ. Wörter aisl. þengill;
ae. ðengel Fürst, Herr (wohl ursprl. der Kräf-
tige, Mächtige
); aisl. þang n. Tang; mndd.
danc (-g-) m. Seegras, Tang; ae. ðung m. Ei-
senhut
, nndd. wodendung Schierling (wenn
ursprünglich dichte Masse, Büschel dâha);
aisl. þungr schwer (< *tkó-; oder zu lit. tin-
gùs schwer?; ding). Die Bedeutung gedei-
hen
dürfte so aus fest werden, stark werden
hervorgegangen sein.

Auch got. þeiƕo Donner (< *þenχwōn-) hat man
wegen der zu der Wz. uridg. *tenk- gehörigen slav.
Wörter aksl. ta Regenguß, Schneegestöber, aruss.
tua dichte Masse, Haufen, Gewitterwolke; slowinz.
tą̃a Regenwolke, sloven. tọ́a Hagel, poln. tcza
Regenbogen unter einer Grundbedeutung dunkle,
dicke Wetterwolke
(Dichtes) hierhergestellt (zustim-
mend Lehmann, a. a. O. þ-31; anders Diefenbach, Vgl.
Wb. d. got. Spr. II, 704: þeiƕo zu got. þeihs Zeit; dazu
s. u.; Grienberger, Unters. z. got. Wortkunde 215: þeiƕo
zu ahd. donar; s. d.). Trifft die Verbindung mit der Wz.
*tenk- zu, so handelt es sich bei got. þeiƕo wohl um die
Fortsetzung eines substantivierten Adj. mit dem Suffix
*-ō-n-, *þenχ-ō-n- Zusammengezogenes (C. C.
Uhlenbeck, PBB 30 [1905], 315); vgl. ahd. melo, anord.
mjl Mehl < *mela- das Gemahlene (Krahe-Meid,
Germ. Sprachwiss. III § 77, 4).

Die Bedeutungen (sich) zusammenziehen (auch
bes. von der Milch: gerinnen), fest, dicht wer-
den
dieser Wörter zeigen sich im Germ. in bair.
deihen austrocknen und dadurch dichter wer-
den, in einen engeren Raum zusammengehen

(s. o.) und in anord. þéttr (s. o.), dem lautlich
air. técht geronnen entspricht. Aus dem Kelt.
stellen sich ferner hierher air. con-téici erstar-
ren, fest werden, fest machen
, téchtaid gerinnt
(*tenktō). Von dem aus der Milchwirtschaft
stammenden Begriff gerinnen erklären sich
über die Vorstellung des Gedeihens auch Wör-
ter für Glück: air. tocad m.(?), mkymr. tynghet,
nkymr. tynged, nbret. tonkad Schicksal (mbret.
tonquaff vorbestimmen); vgl. sloven. tek Lauf,
Flut, Verlauf
neben Appetit, älter Gedeihen
(F. Solmsen, Zfvgl.Spr. 35 [1899], 479 f.). Ein
zugehöriges transitives Verb ist aind. (-)tanakti
macht gerinnen (< *t-né-k-ti) mit den ver-
wandten Bildungen av. taχma- tapfer, tüchtig,
heldenhaft
(Superlativ tancita-), ferner npers.
tang eng, bedrängt; npers. tanīδan zusam-
menziehen
; dâha.

Ob lit. tèkti (tenkù, tekaũ) hinreichen, zukommen;
sich ereignen
und lett. tikt (Präs. tìeku oder tìku,
prät. tiku) werden, geraten, zufallen (mit Übertritt in
die Flexionsklasse von lìeku, likt [lit. liekù, lìkti blei-
ben, übrig bleiben, zurückbleiben
]; s. Endzelin, Lett.
Gram. 576) als von Haus aus nasalhaltige Bildungen
zugehörig sind (so C. C. Uhlenbeck, PBB 30 [1905],
315; Fraenkel, Lit. et. Wb. 1077), wobei sich im Balt.
eine Bedeutungsentwicklung von gerinnen, fest wer-
den, dicht werden
zu von einem Zustand in einen an-
dern (vorwiegend in einen günstigeren) übergehen, ein
Ziel erreichen
vollzogen haben müßte, ist zweifelhaft
(ablehnend Feist, a. a. O. 488; H. Osthoff, IF 8
[1898], 41). Eher handelt es sich um eine n-Infix-Bil-
dung einer ursprl. nasallosen Wz. (vgl. Pokorny 1058
zu uridg. *tek-; ahd. diggen). Sofern lit. tìkti (tin-
kù, tikaũ) taugen, wohin geraten, sich ereignen; ent-
sprechen
mit Ablautentgleisung nach einem Verb wie
lit. sliñkti (slenkù, slinkaũ; zu ahd. slîhhan schlei-
chen
), in dem *-in- und *-en- nebeneinander stehen
(Brugmann, Grdr.² II, 3, 285), aus einem nasalinfi-
gierten tèkti (tenkù) hervorgegangen ist (Zupitza,
Germ. Gutturale 140; B. Jēgers, Zfvgl.Spr. 80 [1965],
92 als Alternative, s. u.), kann auch dieses Verb nicht
mit dem ursprl. nasalhaltigen urgerm. Verb *þinχan-
verbunden werden, obwohl sich unter den Komposita
die Bedeutung gedeihen (lit. nutìkti [an]treffen, ge-
deihen; sich ereignen
, utìkti gedeihen, wohlgera-
ten
) findet (anders Pokorny 1068: im Falle von germ.
*þīχa- liege Verschmelzung mit Verwandten von lit.
tinkù, tìkti taugen, passen usw. vor). Einen Zusam-
menhang der beiden lit. Verben tèkti und tìkti lehnt
Fraenkel, Lit. et. Wb. 1092 wohl zu Recht ab; auch
nach B. Jēgers (Verkannte Bedeutungsverwandtschaften
baltischer Wörter, Diss. [Göttingen, 1949 (maschinen-
schriftl.)], 91 ff.) ist am ehesten von zwei Parallelwur-
zeln *tek- und *tek- auszugehen. Die Auffassung
Joh. Schmidts (Idg. Vokalismus 52), daß nicht nur der
Nasal in lit. tenkù, tèkti, sondern auch in germ. *þin-
χan- sekundär sei und daß beide Verben zu der Wz. in
ahd. degan Knabe, Diener, Held usw. gehören, ist
wegen der nasalhaltigen Verwandten des germ. Verbs
unzutreffend. Weiterhin bleibt die Sippe von aind.
dháyati saugt fern (anders F. O. Lindeman, Norsk
tidsskrift f. sprogv. 22 [1968], 72 f.); Gleiches gilt für
die Verbindung mit alb. ndih helfe, unterstütze,
ndihmë Hilfe (s. E. Çabej, Bonfante-Festschrift 97).

Walde-Pokorny I, 725 f.; Pokorny 1068; Mayrhofer,
K. et. Wb. d. Aind. I, 473; ders., Et. Wb. d. Altindoar.
I, 614 f.; Bartholomae, Airan. Wb. 626 f.; Reichelt,
Aw. El.buch 446; Trautmann, Balt.-Slav. Wb. 323 f.;
Miklosich, Et. Wb. d. slav. Spr. 348. 358; Sadnik-Ait-
zetmüller, Handwb. zu den aksl. Texten 137. 320; Vas-
mer, Russ. et. Wb. III, 158 f. 167; Mühlenbach-Endze-
lin, Lett.-dt. Wb. IV, 209 f.; Fick II (Kelt.)⁴ 128;
W. Stokes, BB 25 (1899), 258; Vendryes, Lex. ét. de
l’irl. anc. T-84 f.; Dict. of Irish T-100; C-464 f.; R. He-
mon, Dict. hist. du bret. (Paris, 195879) VI, 3088;
E. Benveniste, Word 19 (1954), 253 f.

Grienberger, Untersuchungen 214, stellt auch got.
þeihs Zeit, ahd. ding zu der Wz. uridg. *tenk- (sich)
zusammenziehen
. Doch ist der Ansatz einer von die-
ser Wz. verschiedenen Wz. *tenk- ziehen, dehnen,
spannen; Zeitspanne
(Pokorny 1067) wahrscheinli-
cher ( ding). Wie zumeist vollkommen verfehlt ist
Triers (Lehm 16 ff.) Auffassung, daß die Bedeutung
dicht von *tenkto- aus der undurchlässigen Lehm-
wand zu erklären sei (zustimmend Vries, Anord. et.
Wb.² 609).

Vgl. auch dâha.

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