ding
Volume II, Column 649
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ding n. a-St.: Gericht, Gerichtstag, Ge-
richtsort, Sachverhalt, Rechtssache; (Volks-)
Versammlung, Beratung; (Kirchen-)Gemein-
de; Ding, Geschehnis; Wesen, Ursache; res,
conventus, negotium
, Hildebr. Kampf; vgl.
Leges Baiuvariorum 12, 8 wehadinc Kampfge-
richt
im Sinne von Zweikampf Var.: think,
thinc(h), dinc(h), dink, ting; PN alem. 8. Jh.
Tingolf, Dhingmunt, bair. 9. Jh. Dincfrid usw.
Ahd. ding bezeichnete zuerst die allgemeine
Volksversammlung, dann im religiösen und/
oder rechtlichen Sinn den Gerichtsort, das Ur-
teil, im philosophischen Sinn bedeutet ding
Wesen, dann Geschöpf, seit dem 11. Jh. Ge-
genstand
. Mhd. dinc (-g-) Gerichtsverhand-
lung, Zweikampf, Vertrag, Gericht, Gerichts-
tag, Gerichtsstätte, Ding
; seit Ende des 13. Jh.s
er-Pl. (neben sw. Pl. vom 13. bis 18. Jh.; mdartl.
noch heute) zunächst relativ häufig im östl. Md.
und Nd., jünger auch in den meisten westl.
Mdaa.

Nhd. Ding (seit etwa dem 17. Jh. semantische
Unterscheidung zwischen pl. Dinge Gegenstän-
de
und Dinger herabsetzend von Personen, Sa-
chen
, Gaunerstück); für die Bedeutungsent-
wicklung von das, was auf dem Thing verhan-
delt wird, Gerichtssache
zu Sache vgl. die des
Wortes Sache ( sacha Anklagegrund, Sache
usw.), ferner die von frz. chose < lat. causa Ge-
richtsurteil
. Die älteren Bedeutungen sind noch
erkennbar in (be-)dingen, Bedingung, verteidi-
gen < mhd. vertagedingen jmd. vor Gericht
vertreten
( tagading).

Splett, Ahd. Wb. I, 137; Schützeichel⁴ 89 f.; Starck-
Wells 100. 799; Graff V, 176 ff.; Schade 103; Lexer I,
433 f.; Förstemann, Adt. Namenbuch2-3 I, 1456 f.;
H. Wesche, PBB 61 (1937), 19; P. Kretschmer, Glotta
10 (1920), 158; E. Karg-Gasterstädt, Ber. ü. d. Ver-
handl. d. sächs. Akad. der Wiss. z. Leipzig 104, 1
(1958), 3 ff.; Lühr, Stud. z. Hildebrandlied 568 ff.; Le-
xer I, 433 f.; Benecke I, 332; Diefenbach, Gl. lat.-
germ. 494 (res); Dt. Wb. II, 1152 ff.; Dt. Wb.² VI,
1081 ff.; Kluge²¹ 133; Kluge²² 145; Pfeifer, Et. Wb.
286.

Dem neutr. ahd. ding entsprechen as. thing Ge-
richt, Versammlung, Ding, Sache
, mndd. dinc
(-g-), dinge n. dss.; mndl. dinc, dync, ding(e)
dss., nndl. ding; afries. thing dss., nfries. ding
dss.; ae. ðing dss., PN 8. Jh. Thingfrith usw.,
me. þing dss., ne. thing; aisl. nisl. þing dss.,
nnorw. ting, nschwed. ting, ndän. ting (> lapp.
norw. digge, tigge), PN runennorw. um 600
þingwinar, runenschwed. þingulfr, anord.
þingfastr, þingbjrn usw. In Anbetracht der ety-
mologischen Deutung von mhd. dienstac (s. d.)
ist die Bedeutung Kampf, die sich außer im
Ahd. auch im Afries., Ae., Aisl. findet, bemer-
kenswert.

Zugehörig ist die Bezeichnung deo Marti Thing-
so (oder Thincso?) (dat. sg.) auf einer nach a.
150 von Friesen(?) herrührenden Altarinschrift
am Hadrianswall, die wegen der Gleichsetzung
des Kriegsgottes Mars mit germ. *Tīwaz den
Schützer des Kampfverbandes (vgl. die Bedeu-
tung Kampf bei ahd. ding) bezeichnet haben
dürfte (H. Dessau, Inscriptiones Latinae selectae
[Berlin, 1892] II, 1, 4760; S. Gutenbrunner,
Germ. Götternamen [Halle, 1936], 15; O. Höf-
ler, Gutenbrunner-Festschrift 89 ff. gegen K. von
See, Altnordische Rechtswörter [Tübingen,
1964], 118 ff.; zweifelnd, ob zu langob. thinx
[s. u.]: Rhee, Germ. Wörter in langob. Gesetzen
69; anders Th. Siebs, ZfdPh. 24 [1892], 454:
Gott der Zeit; F. Kauffmann, PBB 16 [1892],
207: Schutzgott des cuneus; W. L. van Helten,
PBB 27 [1902], 142 f.: *þingisō Krieger. 137:
*þinhsō [dagegen J. de Vries, Tijdschrift 48
(1929), 147: aus *þinhsō wäre *þīχsō entstan-
den]). Hierher gehört auch dinges- in mndd.
dingesdach usw. ( dienstac), dings- in ON
ndrhein. Dinslaken(?) (zweifelnd Bach, Dt. Na-
menkunde II § 461), ferner langob. thinx n. die
im Thing abgemachte, rechtsgültige Handlung,
bes. Vermachung, Zuwendung, Erbeinsetzung

und im Hinterglied gaire-thinx.

Bei der Bedeutungsangabe allgemeines Thing, auf
dem der Freie mit dem Ger erschien, die auf dem
Thing vollzogene rechtsgültige Handlung, bei der der
Speer Symbolgegenstand ist, Schenkung, Freilassung,
Vornahme eines Rechtsakts
und damit bei dem Bezug
auf ahd. gêr Speer ist zu bedenken, daß im Langob.
anscheinend kein sicheres r < *z < *s belegt ist
(R. Schuhmann-S. Zeilfelder mündlich; gêr).

Fick III (Germ.)⁴ 176; Holthausen, As. Wb. 77; Sehrt,
Wb. z. Hel.² 602 f.; Berr, Et. Gl. to Hel. 407; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. I, 1, 430; Schiller-Lüb-
ben, Mndd. Wb. I, 522; Verdam, Mndl. handwb.
137 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 118; Vries, Ndls.
et. wb. 117 f.; Holthausen, Afries. Wb.² 111; Richtho-
fen, Afries. Wb. 1072; Dijkstra, Friesch Wb. I, 274 f.;
Dornkaat Koolman, Wb. d. ostfries. Spr. I, 298; Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 365; Bosworth-Toller, AS Dict.
1060 f.; Suppl. 929; Suppl. II, 61; Stratmann-Bradley,
ME Dict.³ 634; OED² XVII, 941 f.; Oxf. Dict. of
Engl. Et. 917; Vries, Anord. et. Wb.² 610 f.; Jóhan-
nesson, Isl. et. Wb. 439; Holthausen, Vgl. Wb. d.
Awestnord. 315; Falk-Torp, a. a. O. 1263 f.; Torp, Ny-
norsk et. ordb. 786 f.; Hellquist, Svensk et. ordb.³
1187; Naumann, Anord. Namenstudien 110; Thom-
sen, Saml. afhandlinger II, 222; Feist, Vgl. Wb. d. got.
Spr. 494 f.; Lehmann, Gothic Et. Dict. þ-30; Bruck-
ner, Spr. d. Langob. 212; W. van Helten, a. a. O. 151;
Rhee, a. a. O. 67 ff.; Schönfeld, Wb. d. agerm. PN 84;
Reichert, Lex. d. altgerm. Namen 264.

thunginus Thingrichter in der Lex salica ist vor allem
wegen der von urgerm. *þenga- usw. abweichenden Ab-
lautstufe von den Wörtern für Thing zu trennen
(H. Götz, PBB 72 [1950], 314 ff.: zu thuingan zwin-
gen
).

Die Grundbedeutung von urgerm. *þenga- >
*þinga- war (festgesetzte) Zeit > zur be-
stimmten Zeit stattfindende Gerichtsversamm-
lung
. Die Bedeutung Zeit findet sich noch in
ahd. Abrogans K thiu thinku undaz tenus usque
(Gl. 1, 257, 7 f.), Pa, K, Ra diu dingu (unci nu)
actenus usque nunc (Gl. 1, 50, 34 f., Gl.
1, 51, 34 f., vgl. auch Gl. 1, 166, 40; s. Splett, Ab-
rogans-Studien 107. 385 f.; Karg-Gasterstädt,
a. a. O. 4 u. Anm. 7), ae. þing-gemearc berech-
nete Zeit
. Im grammatischen Wechsel steht ur-
germ. *þenχaz- > *þīχaz- Zeit > got. þeihs
n. Zeit (akk.pl. þeihsa). Zusammen mit got.
þeihs, langob. thinx, PN (Marti) Thingso < ur-
germ. *þengisa- (van Helten, a. a. O. 138
Anm. 2; doch 407: thinx < *þingiti) läßt sich
ahd. ding < urgerm. *þenga- aus den Stämmen
*ténk-s-, *ténk-es-, *tenk-és-, *tenk-ós- herlei-
ten, die möglicherweise aus einem s-stämmigen
Paradigma hervorgegangen sind (Lühr, a. a. O.
570 Anm. 1; anders Rhee, a. a. O. 67 f.: s-St. ne-
ben a-St.; zur Flexion der s-Stämme im Germ. s.
Ch. C. Barber, Vorgeschichtl. Betonung der germ.
Subst. u. Adj. (Heidelberg, 1932), 17; J. Schind-
ler, in Flexion u. Wortbildung 261 ff.; doch s.
Darms, Schwäher und Schwager 452 Anm. 46).
Die zugrundeliegende Wz. uridg. *ten(ǝ)-
[**ten(H)-] dehnen, spannen, ziehen ( den-
nen
), die in air. tan f. Zeit (< *tenā), eigtl.
Fortdauer, zeitliche Ausdehnung, in-tain als,
wenn
, tan früher, einst (vgl. lat. protinus vor-
wärts, fernerhin, in einem Zug
< pro und tenus
adv. sich erstreckend, bis an < erstarrtem
Akk. *tenos Erstreckung), aind. tanóti auch
dauert unerweitert vorliegt, hat verschiedene
Erweiterungen erfahren; vgl. das von derselben
Wz. mit p-Erweiterung abgeleitete lat. tempus n.
Zeitspanne, Zeitpunkt, Zeit (ferner *ten-d- in
lat. tendō spanne, dehne aus, strecke aus usw.).
Die Wz.-Form *tenk- ist jedoch auf das Germ.
beschränkt, sofern ahd. dîhsila und Verwandte
von einer Wz. *tengh- ziehen herzuleiten sind
( dîhsila).

Aksl. ta Rechtsstreit betrachtet man teils als Ent-
lehnung aus dem Germ., teils wird es zusammen mit
aksl. tьkъ schwer, lit. tingùs zu anord. þungr
schwer gestellt (s. Vasmer, Russ. et. Wb. III, 166 f.).
Aisl. þungr ist aber eher an eine im Germ. vertretene
Sippe anzuschließen ( dîhan).

Walde-Pokorny I, 724 f.; Pokorny 1067; Mayrhofer,
K. et. Wb. d. Aind. I, 475; ders., Et. Wb. d. Altindoar.
I, 618 f.; Boisacq, Dict. ét. gr.⁴ 947; Frisk, Gr. et. Wb.
II, 865; Chantraine, Dict. ét. gr. 1092 f.; Walde-Hof-
mann, Lat. et. Wb. II, 660 ff.; Ernout-Meillet, Dict. ét.
lat.⁴ 683; Fick II (Kelt.)⁴ 127; Vendryes, Lex. ét. de
l’irl. anc. T-25 f.

Eine unmittelbare Verbindung von got. þeihs und lat.
tempus unter einer gemeinsamen Wz. uridg. *tenk-,
deren lat. Kontinuante *temp- ergeben haben soll
(F. Froehde, BB 8 [1884], 165 f.; Kluge, Germ. Konju-
gation 21; H. Hirt, IF 32 [1913], 225) ist nicht mög-
lich, da ein Lautwandel von uridg. *k > lat. p sonst
nicht nachgewiesen werden kann (Leumann, Lat. Laut-
u. Formenlehre § 155 f.). Ferner fehlen bei der Sippe von
ahd. ding Reflexe des Labiovelars im Germ.

Die Wz. *tenk- (sich) zusammenziehen (bes. von der
Milch) (Zupitza, Germ. Gutturale 140; Persson, Beitr.
z. idg. Wortf. 391 f.) bleibt ebenso fern wie gr. τάσσω
stelle fest, ordne, regele, wozu L. Sütterlin (BB 17
[1891], 165) got. þeihs in der gleichen Grundbedeu-
tung (festgesetzte Zeit, Termin, Zeit) wie bei der Ver-
bindung mit *tenk- ziehen (s. o.) stellt. Denn unter
den Ableitungen der Wz. *tenk- (sich) zusammenzie-
hen
gibt es keine, die eine temporale Bedeutung auf-
weist ( dîhan); und gr. τάσσω gehört zu gr. τᾱγός
Anführer, Gebieter mit *g ( denken, dîhsila). Auch
nicht mit H. Osthoff, IF 8 (1898), 41 f. zu lit. tèkti (ten-
kù, tekaũ) hinreichen, zukommen; sich ereignen der
Nasal ist wohl sekundär; diggen, dîhan. Seebold
(Kluge²² 145 f.) verbindet das Wort Ding unter einer
Grundbedeutung Festsetzung mit mir. téchtae gesetz-
mäßig, vorgeschrieben
, mir. téchtae n. Rechtmäßig-
keit
. Zugehörige Wörter wie mkymr. brenhin teithiawc
rex legitimus legen aber für die kelt. Wörter eine
Grundbedeutung fest und so einen Zusammenhang
mit mir. tēcht geronnen von *tenk- (sich) zusammen-
ziehen
(s. o.) nahe (Pokorny 1068).

Nach Karsten, Germ.-finn. Lehnw. 14 ff. sind finn. ten-
ho Kraftäußerung, Zauberkraft (tenho-keino Zau-
bermittel
usw.), estn. tänu Dank, Gebet, auch Gott?
< *tänhu < *tenho schon in der Zeit um Christi Geburt
aus nordgerm. *þenhwō entlehnt (vgl. finn. rengas:
germ. *hringaz), das in der Form *þenχwōn- dem n-
Stamm got. þeiƕō Donner zugrundeliegt. Sowohl ur-
germ. þenχwōn- als auch finn.-estn. tenho hätten eine
Gewittergottheit bezeichnet (vgl. finn. tenhottaa lär-
men
), Wörter, die mit dem Götternamen Mars Thing-
sus als Gott der atmosphärischen Vorgänge (vgl. oben
zu Gott der Zeit) und mit got. þeihs Zeit zu verknüp-
fen seien. Der dunkel gewordene Gottesname scheine
nach dem s-Stamm *þenhaz (got. þeihs), *þenga(z)
Volksversammlung (langob. thinx, ahd. ding) umge-
bildet worden zu sein, weil die agerm. Opfer- und
Thingstätten seit uralter Zeit zusammenfielen. Das an-
scheinend zwischen finn. tenho usw. und Mars Thingsus
usw. vermittelnde got. þeiƕō gehört aber zu der Wz.
*tenk- (sich) zusammenziehen ( dîhan), und für die
Auffassung von Mars Thingsus als Gott der atmosphä-
rischen Vorgänge
fehlen Anhaltspunkte. Zudem ist un-
sicher, ob finn. tenho, estn. tänu germ. Lehnwörter sind
(Feist, a. a. O.).

Verfehlt Trier, Lehm 17: ahd. ding usw.: Mannring >
Versammlung > Verhandlung > Verhandlungsge-
genstand > Sache zu got. þāhō Lehm (zustimmend
Vries, Ndls. et. wb. 117 f.). Danach setzt Mitzka (Klu-
ge²¹ 133) für urgerm. *þinga- eine Grundbedeutung
gehegte Versammlung an, wobei der Ursinn durch
die alte Entlehnung finn. tanhua Hürde enthüllt wer-
de.

Demgegenüber stellt Wh. Stokes, BB 25 (1899), 258,
ders., Zfvgl.Spr. 37 (1900-01), 258 air. tre-thenc (tre-
cheng) Dreiheit, Triade zu urgerm. *þinga-. Doch
liegt hier eine Ableitung auf *-eng von *tto- wie bei
air. decheng Gruppe von zweien vor; vgl. anord. þrið-
jungr Drittel, dritter Teil (Vendryes, a. a. O. T-130).
Air. tongu schwöre kann nicht mit ahd. ding (Peder-
sen, Vgl. Gr. d. kelt. Spr. I, 106) verbunden werden, da
n nur präsentisch ist; vgl. das zu air. con-toing er
schließt einen Vertrag ab
gehörige Verbalnomen air.
co-tach Vertrag, Pakt (Vendryes, a. a. O. C-217; T-
106); denken.

S. auch dienstac, gidinga, gidingi.

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