gôrag
Band IV, Spalte 531
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gôrag adj. a-St., seit dem 9. Jh. in Gl.,
bei N, O: arm, armselig, dürftig, mager, ab-
gemagert, wenig, gering; exiguus, macilen-
tus, pauper
Var.: -e-, -u-. Die Länge des
Vokals ist durch die Schreibung mit Zir-
kumflex bei N gesichert. Mhd. gôrec arm,
beklagenswert, elend
, nhd. veraltet und dial.
gorig gering, armselig, mager. Das seit
dem 16. Jh. im ndd. Raum erscheinende
Subst. Gör(e) Mädchen ist vielleicht eine
Personifizierung einer Abstraktbildung, die
von dem ahd. gôrag zugrundeliegenden Adj.
ahd. *gôr (fortgesetzt in rhein. gor gering,
armselig
) abgeleitet ist. Als Grundbedeu-
tung für Gör(e) wäre dann kleines, armseli-
ges Wesen
anzunehmen.

Ahd. Wb. 4, 331; Splett, Ahd. Wb. 1, 313; Köbler, Wb.
d. ahd. Spr. 483; Schützeichel⁶ 137; Starck-Wells
233; Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 3; Graff 4,
237; Lexer 1, 1051; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 239
(exiguus). 385 (macilentus). 470 (pauper); Dt. Wb. 8,
962 f. 966; Kluge²¹ 265; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et.
Wb.² 462 f. Müller, Rhein. Wb. 2, 1306.

Ahd. gôrag hat keine direkten Entsprechun-
gen. Es handelt sich um eine Ableitung mit
dem Adjektiva erweiternden Suffix urgerm.
*-aa- von urgerm. *ara- mutlos, ver-
zagt
(zum Typ vgl. got. sels glücklich :
ahd. sâlig selig; Krahe-Meid 1969: 3,
§ 144). Urgerm. *ara- ist fortgesetzt in
got. gaurs traurig, betrübt, mürrisch (davon
abgeleitet sind gaurei* Betrübnis [nur akk.
sg. gaurein Phil. 2, 27; < *arīn-]; gauriþa
Betrübnis [nur Joh. 16, 6; < *ariþō-];
gaurjan* kränken [< *arie/a-]). Mögli-
cherweise beruht aisl. gaurr erbärmliche
Person, Lump
auf einer Substantivierung
von urgerm. *ara-; jedoch stimmen hier-
mit die Bedeutungen von nisl. gaurr Stange,
dicker Nagel, Tölpel
und fär. geyrur Tang-
stengel mit Blättern
nicht überein (dasselbe
Nebeneinander solcher Bedeutungen findet
sich aber auch in aisl. drengr dicker Stock;
Mann, Knabe, Diener
).

Weitere innergermanische Anschlüsse bleiben unsi-
cher. Falls got. gaunon klagen, die Totenklage an-
bringen
< urgerm. *anōe/a- hinzuzustellen ist,
könnte man in *ara- eine Ableitung mit dem Ver-
baladjektiva bildenden Suffix *-ra- von dem urgerm.
st. Verb *a-e/a- bellen (> aisl. geyja; vgl. auch
die Ableitungen aisl. -gá [in hundgá Hundegebell <
*a-ō-]; aisl. gaul das Bellen [<*a-la-]; aisl.
gauð das Bellen [<*a-đa-]; mhd. göude Jubel,
ae. gēađ Torheit, Spott [<*aþō-]; ae. gōian kla-
gen
[<*ō-e/a-]; vielleicht auch run. gauþz Bel-
ler?
[Feuerstahlhandgriff von Illerup, ca. 200 n.Chr.;
< *aþa-]) sehen. Vielleicht ablautend und mit einer
n-Erweiterung ist as. gornon trauern (< *urnōe/a-)
hinzuzustellen; aber hierbei ist das Verhältnis zu den
semantisch gleichen und lautlich nahestehenden For-
men as. gnornon trauern, ae. gnorn(i)an trauern,
klagen
und as. grornon, ae. grornian klagen,
trauern
unklar (Resultate unterschiedlicher Assimila-
tionserscheinungen ?).

Abzulehnen ist die von Grienberger 1900: 96 vorge-
schlagene Verbindung von got. gaurs mit ahd. gor
Kot, Mist, Dung (s. d.); er geht anstelle von ahd.
gôrag von gorag aus, weil er die Schreibung mit Zir-
kumflex als nicht beweiskräftig für die Länge ansieht.

Fick 3 (Germ.)⁴ 121 f.; Seebold, Germ. st. Verben
216; Heidermanns, Et. Wb. d. germ. Primäradj. 235;
Holthausen, As. Wb. 28 f.; Sehrt, Wb. z. Hel.² 199.
207; Berr, Et. Gl. to Hel. 160. 164; Holthausen, Ae. et.
Wb. 134. 139; Bosworth-Toller, AS Dict. 482. 491;
Suppl. 488; Vries, Anord. et. Wb.² 158; Jóhannesson,
Isl. et. Wb. 388 f.; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog
1, 566; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 207 f.; Lehmann,
Gothic Et. Dict. G-73 f.

Auch die außergerm. Anschlüsse bleiben un-
sicher. Am ehesten ist urgerm. *ara- mit
ai. ghorá- grausig, schrecklich, furchtein-
flößend
zu verbinden und auf uridg. *gho-
ro- zurückzuführen; dabei müßte man jedoch
von einem Nebeneinander der Bedeutungen
furchtbar und voller Furcht ausgehen (aus
semantischen Gründen gegen diese Verbin-
dung Frisk 1934: 8).

Walde-Pokorny 1, 636; Pokorny 453 f.; Mayrhofer, K.
et. Wb. d. Aind. 1, 362 f.; ders., Et. Wb. d. Altindoar.
1, 517 f.

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