gôrag adj. a-St., seit dem 9. Jh. in Gl.,
bei N, O: ‚arm, armselig, dürftig, mager, ab-
gemagert, wenig, gering; exiguus, macilen-
tus, pauper‘ 〈Var.: -e-, -u-〉. Die Länge des
Vokals ist durch die Schreibung mit Zir-
kumflex bei N gesichert. — Mhd. gôrec ‚arm,
beklagenswert, elend‘, nhd. veraltet und dial.
gorig ‚gering, armselig, mager‘. Das seit
dem 16. Jh. im ndd. Raum erscheinende
Subst. Gör(e) ‚Mädchen‘ ist vielleicht eine
Personifizierung einer Abstraktbildung, die
von dem ahd. gôrag zugrundeliegenden Adj.
ahd. *gôr (fortgesetzt in rhein. gor ‚gering,
armselig‘) abgeleitet ist. Als Grundbedeu-
tung für Gör(e) wäre dann ‚kleines, armseli-
ges Wesen‘ anzunehmen.
Ahd. Wb. 4, 331; Splett, Ahd. Wb. 1, 313; Köbler, Wb.
d. ahd. Spr. 483; Schützeichel⁶ 137; Starck-Wells
233; Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 3; Graff 4,
237; Lexer 1, 1051; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 239
(exiguus). 385 (macilentus). 470 (pauper); Dt. Wb. 8,
962 f. 966; Kluge²¹ 265; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et.
Wb.² 462 f. — Müller, Rhein. Wb. 2, 1306.
Ahd. gôrag hat keine direkten Entsprechun-
gen. Es handelt sich um eine Ableitung mit
dem Adjektiva erweiternden Suffix urgerm.
*-aa- von urgerm. *au̯ra- ‚mutlos, ver-
zagt‘ (zum Typ vgl. got. sels ‚glücklich‘ :
ahd. sâlig ‚selig‘; Krahe-Meid 1969: 3,
§ 144). Urgerm. *au̯ra- ist fortgesetzt in
got. gaurs ‚traurig, betrübt, mürrisch‘ (davon
abgeleitet sind gaurei* ‚Betrübnis‘ [nur akk.
sg. gaurein Phil. 2, 27; < *au̯rīn-]; gauriþa
‚Betrübnis‘ [nur Joh. 16, 6; < *au̯riþō-];
gaurjan* ‚kränken‘ [< *au̯rii̯e/a-]). Mögli-
cherweise beruht aisl. gaurr ‚erbärmliche
Person, Lump‘ auf einer Substantivierung
von urgerm. *au̯ra-; jedoch stimmen hier-
mit die Bedeutungen von nisl. gaurr ‚Stange,
dicker Nagel, Tölpel‘ und fär. geyrur ‚Tang-
stengel mit Blättern‘ nicht überein (dasselbe
Nebeneinander solcher Bedeutungen findet
sich aber auch in aisl. drengr ‚dicker Stock;
Mann, Knabe, Diener‘).
Weitere innergermanische Anschlüsse bleiben unsi-
cher. Falls got. gaunon ‚klagen, die Totenklage an-
bringen‘ < urgerm. *au̯nōi̯e/a- hinzuzustellen ist,
könnte man in *au̯ra- eine Ableitung mit dem Ver-
baladjektiva bildenden Suffix *-ra- von dem urgerm.
st. Verb *au̯-i̯e/a- ‚bellen‘ (> aisl. geyja; vgl. auch
die Ableitungen aisl. -gá [in hundgá ‚Hundegebell‘ <
*au̯-ō-]; aisl. gaul ‚das Bellen‘ [<*au̯-la-]; aisl.
gauð ‚das Bellen‘ [<*au̯-đa-]; mhd. göude ‚Jubel‘,
ae. gēađ ‚Torheit, Spott‘ [<*au̯þō-]; ae. gōian ‚kla-
gen‘ [<*ōu̯-i̯e/a-]; vielleicht auch run. gauþz ‚Bel-
ler?‘ [Feuerstahlhandgriff von Illerup, ca. 200 n.Chr.;
< *au̯þa-]) sehen. Vielleicht ablautend und mit einer
n-Erweiterung ist as. gornon ‚trauern‘ (< *urnōi̯e/a-)
hinzuzustellen; aber hierbei ist das Verhältnis zu den
semantisch gleichen und lautlich nahestehenden For-
men as. gnornon ‚trauern‘, ae. gnorn(i)an ‚trauern,
klagen‘ und as. grornon, ae. grornian ‚klagen,
trauern‘ unklar (Resultate unterschiedlicher Assimila-
tionserscheinungen ?).
Abzulehnen ist die von Grienberger 1900: 96 vorge-
schlagene Verbindung von got. gaurs mit ahd. gor
‚Kot, Mist, Dung‘ (s. d.); er geht anstelle von ahd.
gôrag von gorag aus, weil er die Schreibung mit Zir-
kumflex als nicht beweiskräftig für die Länge ansieht.
Fick 3 (Germ.)⁴ 121 f.; Seebold, Germ. st. Verben
216; Heidermanns, Et. Wb. d. germ. Primäradj. 235;
Holthausen, As. Wb. 28 f.; Sehrt, Wb. z. Hel.² 199.
207; Berr, Et. Gl. to Hel. 160. 164; Holthausen, Ae. et.
Wb. 134. 139; Bosworth-Toller, AS Dict. 482. 491;
Suppl. 488; Vries, Anord. et. Wb.² 158; Jóhannesson,
Isl. et. Wb. 388 f.; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog
1, 566; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 207 f.; Lehmann,
Gothic Et. Dict. G-73 f.
Auch die außergerm. Anschlüsse bleiben un-
sicher. Am ehesten ist urgerm. *au̯ra- mit
ai. ghorá- ‚grausig, schrecklich, furchtein-
flößend‘ zu verbinden und auf uridg. *ghou̯-
ro- zurückzuführen; dabei müßte man jedoch
von einem Nebeneinander der Bedeutungen
‚furchtbar‘ und ‚voller Furcht‘ ausgehen (aus
semantischen Gründen gegen diese Verbin-
dung Frisk 1934: 8).
Walde-Pokorny 1, 636; Pokorny 453 f.; Mayrhofer, K.
et. Wb. d. Aind. 1, 362 f.; ders., Et. Wb. d. Altindoar.
1, 517 f.