grâvo
Volume IV, Column 577
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grâvoAWB m. n-/jan-St., in Gl., G, T, OT,
PG, TC, seit der 2. Hälfte des 8. Jh.s: Graf,
Statthalter, Vorsteher; comes, conductor,
consul, exercitui praepositus, praeses, prin-
ceps militiae, procurator, provisor, tribunus

Var.: k-, c-; -ear-, -re-, -u-; -f-, -b-; -io, -e.
Der Wechsel zwischen -u-, -v-, -f- auf der ei-
nen und -b- auf der anderen Seite beruht auf
grammatischem Wechsel (vgl. Schaffner
2001: 544; anders Franck [1909] 1971: § 82:
b für v sei rein graphisch). In den älteren
Quellen findet sich ein m. jan-St., der später
nur noch am Umlaut von ā zu ē erkenntlich
ist und nach Verlust des -j- zum n-St. wird.
Ahd. grâvo hat seine früheste Bezeugung in
latinisierter Form in merowingischen und ka-
rolingischen Quellen (vom 6. bis zum frühen
9. Jh.): graf(f)io, graphio, grauio, gravio,
grafionus, vereinzelt garafio. Hiermit wird
ein königlicher Steuerbeamter und ein Ge-
richtsverwalter (lat. iudex [fiscalis], praefec-
tus, comes, commentariensis) bezeichnet.
Das Wort wird seit der Mitte des 8. Jh.s im-
mer seltener in den lat. Quellen, da die glei-
che staatliche Funktion mit dem Wort comes
bezeichnet wird. Mhd. grâve, grêve, md.
ndrhein. grâbe (MsH. 3, 170b: die grâben
[Reim: erhaben]) sw. m. königlicher Ge-
richtsvorsitzer, Graf
, nhd. Graf m. erbli-
cher Adelstitel
.

Ahd. Wb. 4, 399 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 319 f.; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 488; Schützeichel⁶ 139; Starck-Wells
238. 819; Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 28; See-
bold, ChWdW8 148; Graff 4, 312 ff.; Lexer 1, 1074;
Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 117 (comes). 129 (conductor).
143 (consul). 513 (praeses). 519 (princeps militiae). 523
(procurator). 536 (provisor). 677 (tribunus); Dt. Wb. 9,
1698 ff.; Kluge²¹ 266 f.; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et. Wb.²
467. Schatz 1907: § 106; ders. 1927: §§ 170. 347;
Franck [1909] 1971: § 150; Braune-Reiffenstein 2004:
§§ 139. 222. RGA² 5, 63 ff.; 12, 529 ff.; R. Gusmani,
FS Beekes 1997: 83. 85.

Ahd. grâvo hat nur in westgerm. Sprachen
direkte Entsprechungen: as. *grāio (zu er-
schließen aus latinisiertem -gravius), mndd.
grāve, grēve (hieraus ins Nordgerm. ent-
lehnt: aisl., nisl. greifi, fär. greivi, nnorw.
greive [mit Lautsubstitution von mndd. ē
durch ei], ndän., nschwed. greve Graf);
mndl. grāve, grēve, nndl. graaf Graf (in
dijkgraaf Deichinspektor liegt noch die alte
Bedeutung Beaufsichtiger, Inspektor vor);
afries. grēva Graf, nfries. graaf: < west-
germ. *grēf/bian-. Unklar ist die Zugehö-
rigkeit (s. u.) mit Ablaut der Stammsilbe
und i-Umlaut von vorae. *ō (vgl. Brunner
1965: § 101) von ae. gerǣfa, gerēfa, (auch
ohne Vorsilbe) rēfa Steuerbeamter, Aufse-
her, Graf, Sheriff
(der angesetzte Dat.Pl.
gerǣbum [vgl. Brunner 1965: § 191 zur
Schreibung -b- für -f-] ist offenbar nicht be-
legt [s. Schaffner 2001: 543 Anm. 115]), me.
rēve, refe, reive, ne. reeve, dial. grave
Vogt.

Die Wortgruppe hat zwei unterschiedliche
Etymologien erfahren:

1. Unwahrscheinlich ist die Annahme, es
handele sich bei der germ. Gruppe sowie bei
lat. graf(f)io um eine zweifache Entlehnung
aus dem byzantinischen Beamtentitel
γραφεύς Schreiber, da hierbei erstens der
Grund für die Einordnung als n-St. nicht er-
sichtlich ist, zweitens gr. α ein Kurzvokal ist,
in den germ. Belegen dagegen ein Langvokal
vorliegt und drittens der Wechsel urgerm.
*-f- und *-- unerklärt bleibt.

2. Die Wortgruppe wird mit got. gagrefts f.
i-St. Beschluß, Befehl verbunden. Bei die-
ser Verbindung wäre eine urgerm. (aller-
dings nicht weiter belegte) Verbalwurzel
*rēf/- beschließen, gebieten anzuneh-
men, wozu westgerm. *grēf/bian- als No-
men agentis-Bildung Beschlußfasser fun-
gierte. Allerdings ergibt hierbei der An-
schluß des ae. Wortes zwei Schwierigkeiten:
Zum einen ist der Ablautunterschied von *ē :
*ō nicht erklärbar, zum anderen müßte im
Ae. eine vollständige Dissimilation von g g
> g ø aufgetreten sein (*a-rōf- > *a-
rōf-), während in den anderen germ. Spra-
chen eine präfixlose Bildung vorliegt (für
das Ahd. kommt eine Entwicklung von *a-
rēf- > *a-rēf- > [mit Synkope] *-rēf- we-
gen der schon von Anfang an festen Folge
gr- nicht in Betracht). Infolge dieser Schwie-
rigkeiten wurde denn auch ae. gerǣfa, gerēfa
von den bedeutungsverwandten anderen
westgerm. Wörtern getrennt und auf eine
Präfixbildung *a-rōfian- zu urgerm.
*rōf/ō- Zahl ( ruoba, ruova) zurückge-
führt (zur Bildung vgl. etwa ahd. scara
Schar : scerio Scherge). Möglicherweise
sind beide Ansätze unter der Annahme zu
vereinen, daß der Stammsilbenvokal eines
ehemals vorae. *a-[]rēf-ian- Steuerbe-
amter
aus semantischen Gründen an den
Vokal von *rōf/ō- Zahl, das im Ae. nur
noch als Kompositionshinterglied in dem
Hapaxlegomenon secg-rōf Gefolgsschar,
Männerschar
vorkommt, angeglichen wur-
de; das Wort müßte also als Zusammenzäh-
ler
interpretiert worden sein.

Weniger wahrscheinlich ist die Annahme in RGA² 12,
531, daß das ae. Wort von *rōfie/a- (einer jan-
Ableitung von urgerm. *rēfa-) abgeleitet ist, und zwar
mit Fehlinterpretation des Anlauts gr- als synkopierte
Form eines Präfixes gi- + Verbanfang r- und einer dar-
auf folgenden hyperkorrekten Wiedereinführung dieses
Präfixes.

Holthausen, As. Wb. 28; Lasch-Borchling, Mndd.
Handwb. 2, 1, 159; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 2, 146;
Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 2, 2114 f.; Franck, Et. wb.
d. ndl. taal² 210; Vries, Ndls. et. wb. 216; Et. wb. Ndl.
F-Ka 315; Holthausen, Afries. Wb.² 36; Richthofen,
Afries. Wb. 784 ff.; Fryske wb. 7, 334; Doornkaat Kool-
man, Wb. d. ostfries. Spr. 1, 670 f.; Dijkstra, Friesch
Wb. 1, 470. 473; Holthausen, Ae. et. Wb. 262;
Bosworth-Toller, AS Dict. 430. 789; Suppl. 393. 685;
ME Dict. s. v.; OED s. v. reeve n.¹, grave n.³; Vries,
Anord. et. Wb.² 186; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 1015;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 1, 636 f.;
Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 95; Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 345; Nielsen, Dansk et. ordb. 162;
Ordb. o. d. danske sprog 7, 62 f.; Torp, Nynorsk et.
ordb. 180; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 298; Svenska
akad. ordb. s. v.; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 182 f.;
Lehmann, Gothic Et. Dict. G-19. Thes. ling. lat. 4, 2,
2164 f.; Niermeyer, Med. Lat. lex.² 1, 617. Meyer
1869: 76 f.; Brøndal 1917: 145 ff.; Gallée [1903] 1977:
569; Schaffner 2001: 542 ff.; Casaretto 2004: 516;
RGA² 12, 529 ff.

Die oben unter 2. angeführte Verbalwurzel
*grēf/- < vorurgerm. *gh/hrēp- findet in
den anderen idg. Sprachen keine Entspre-
chung.

Casaretto 2004: 516 f.

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