hôren
Volume IV, Column 1135
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hôrenAWB sw. v. I, seit dem letzten Viertel
des 8. Jh.s, in Gl., B, GB, T, OT, MF, M, O,
G, Ph, N, Npg, WH: hören (auf), vernehmen,
anhören, zuhören, erhören, Folge leisten, ge-
horchen, (mit etwas) aufhören, gehören zu; at-
tendere, audire, auscultare, exaudire, insona-
re (auribus), intendere, os movere, oboedire
,
zi eineru hant hôren zusammengehören
Var.: hoorr-, horr-, hoor-, hor-, ohr-.
Mhd. hœren, md. hôren hören, anhören, auf-
hören, gehören zu
, nhd. hören etwas aku-
stisch wahrnehmen, vernehmen, etwas auf-
nehmen und geistig verarbeiten, gehorchen
,
in Wendungen wie das läßt sich hören das ist
akzeptabel
, jemandem vergeht Hören und Se-
hen jemand ist sehr betroffen, jemand weiß
nicht mehr, was mit ihm geschieht
, wer nicht
hören will, muß fühlen wer nicht gehorcht,
wird bestraft
, der Zwischenruf hört, hört! als
Reaktion auf einen erstaunlichen Sachverhalt.

Ahd. Wb. 4, 1240 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 400; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 561; Schützeichel⁶ 166; Starck-Wells
284. 822; Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 388; See-
bold, ChWdW8 164; Graff 4, 1001 ff.; Lexer 1, 1339 f.;
3, Nachträge 246; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 63 (audire).
344 ([alci auribus] insonare). 440 (oboedire). 633 (sen-
sibus subiectum); Dt. Wb. 10, 1806 ff.; Kluge²¹ 316;
Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et. Wb.² 556. Riecke 1996: 387.
Röhrich 2004: 2, 737 f.

Das Verb ist gemeingermanisch. Es entspre-
chen: as. hōrian sw. v. I hören, anhören, auf
etwas hören, hinhören, gehorchen, folgen
,
mndd. hȫren etwas akustisch wahrnehmen,
hinhören, zuhören, lauschen, vernehmen, zur
Kenntnis nehmen, gehorchen, gehören zu
, in
Wendungen wie int hūs hȫren genau hinhö-
ren
, tō hūs hȫren zu Hause sein (hȫren in
der Bedeutung gehören, zugehören); andfrk.
ge-hōron sw. v. hören, erhören (das Simplex
ist nicht überliefert), mndl. hōren sw. v. hö-
ren, vernehmen, gehorchen, gehören zu
, nndl.
horen sw. v. hören; afries. hēra sw. v. hören,
gehören
, nfries. hearre hören, wahrnehmen,
vernehmen, informieren, begreifen, anhören,
gehören zu
; ae. hran (angl. hēran, west-
sächs. hīeran) hören, zuhören, folgen, gehor-
chen, gewähren, gehören zu
, me. hēren (hei-
ren, hearen, heoren) dss., ne. hear hören,
zuhören
, in Wendungen wie not to hear day
nor door überhaupt nichts deutlich hören,
imper. hear! hear! (älter hear him! hear him!)
wie nhd. hört, hört! (s. o.); aisl., nisl. heyra
sw. v. hören, fär. hoyra, nnorw. høyra, ndän.
høre, aschwed., nschwed. höra; got. hausjan
sw. v. I hören; ἀκούειν (mit Beseitigung des
grammatischen Wechsels, dazu s. u.; daneben
seltenes hausjon sw. v. II < *χazōe/a-): < ur-
germ. *χazie/a- hören.

Die Aufhebung des grammatischen Wechsels in got.
hausjan ist bislang nicht zufriedenstellend erklärt. Nach
R. Normier, ZVSp 91 (1977), 191 Anm. 48 ist urgerm.
*z nach *a lautgesetzlich desonorisiert (vgl. noch auso
Ohr < *azan-, raus Rohr [dat.sg. rausa] < *razan-,
af-drausjan und ga-drausjan herabstürzen <
*đrazie/a-, kausjan kosten < *kazie/a-). Phone-
tisch ist eine Desonorisierung in dieser lautlichen Um-
gebung schwer zu begründen, zumal z nach *e-
Diphthong erhalten bleibt: dat.pl. diuzam den Tieren <
*đeza-. Hinzu kommt, daß auch in anderer lautlicher
Umgebung der grammatische Wechsel beseitigt ist; vgl.
z. B. got. nasjan : ahd. ner(r)en retten < *naze/a-, got.
ga-nohjan : ahd. gi-nuogen Genüge leisten < *a-
nōie/a-. Naheliegender ist es daher, mit Schaffner
2001: 251. 583 f. die Ursache für diese lautliche Er-
scheinung in der Tendenz des Gotischen zu stimmlosen
Vernerschen Varianten zu sehen (vgl. die got. Auslaut-
verhärtung, die Aufhebung des grammatischen Wech-
sels beim st. Verb). In hausjan könnte s (anstelle von z)
in Anlehnung an andere Kausativa wie kausjan,
-drausjan, nasjan, slaupjan abstreifen, ablegen einge-
treten sein, die die stimmlose Variante nach dem Vorbild
der st. Verben kiusan prüfen, driusan fallen, ga-
nisan genesen, sliupan schleichen verallgemeinert
haben.

Fick 3 (Germ.)⁴ 66; Holthausen, As. Wb. 36; Sehrt, Wb.
z. Hel.² 268 f.; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 193; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 355 f.; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 2, 300 f.; Quak, Wortkonkordanz zu
d. am.- u. andfrk. Ps. u. Gl. 65. 66; Quak, Die am.- u.
andfrk. Ps. u. Gl. 200; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 3,
592 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 261; Suppl. 72;
Vries, Ndls. et. wb. 268; Et. wb. Ndl. F-Ka 461; Holt-
hausen, Afries. Wb.² 42; Richthofen, Afries. Wb. 808;
Fryske wb. 8, 218 ff.; Doornkaat Koolman, Wb. d. ost-
fries. Spr. 2, 105 f.; Dijkstra, Friesch Wb. 1, 503 f.; Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 159; Bosworth-Toller, AS Dict.
582 f.; Suppl. 586; ME Dict. s. v.; OED² s. v.; Vries,
Anord. et. Wb.² 226; Bjorvand, Våre arveord 418 f.;
Jóhannesson, Isl. et. Wb. 200 f.; Fritzner, Ordb. o. d. g.
norske sprog 1, 812; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awest-
nord. 114; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 1, 454; Niel-
sen, Dansk et. ordb. 200; Ordb. o. d. danske sprog 8,
1262 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 240; Hellquist, Svensk
et. ordb.³ 395 f.; Svenska akad. ordb. s. v.; Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 251; Lehmann, Gothic Et. Dict. H-52.
Kieckers 1928: 226. 227; Rooth 1974: 127131; S. Su-
zuki, IF 99 (1994), 219 Anm. 4. 235 Anm. 20; Braune-
Heidermanns 2004: § 187 Anm. 3; Casaretto 2004: 85.
228 Anm. 762.

Von kleineren Modifikationen abgesehen, exi-
stieren für die Etymologie von ahd. hôren
usw. vier Vorschläge, von denen der erste die
größte Wahrscheinlichkeit besitzt:

1. Urgerm. *χazie/a- setzt vorurgerm.
*(h₂)kos-é/ó- fort, das in gr. ἀκούω höre,
gehorche, stehe im Rufe
< vorurgr. *h₂kos-
é/ó- eine genaue Entsprechung hat. Hierher
gehört auch gr. Hesych ἀκεύει beachtet <
vorurgr. *h₂kes-, das auf einen alten s-Aorist
uridg. *h₂kes-s- weist (s. M. Peters, Sprache
32 [1986], 368 Anm. 13; anders J. H. Jasanoff,
in Neu-Meid 1979: 84 f., der anstelle einer Al-
ternation o-stufiges Präsens : e-stufiger s-
Aorist von einem e/o-ablautenden athemati-
schen Präsens *h₂kos-/*h₂kes- ausgeht).

Aus dem Kelt. stellt J. Corthals (HS 103
[1990], 269271) das air. Deponens
*auchaidir hören (2.sg.imp. auch[a]ide) <
kelt. *akosī- hierher, doch ist uridg. *h₂k- im
Kelt. nicht als *ak- vertreten.

Zugrunde liegt wohl ein primäres o-stufiges
e/o-Präsens (vom Typ uridg. *kop-e/o- hau-
en
) zu uridg. *h₂kes- aufmerken (G. Klin-
genschmitt mündlich bei Lühr 2000: 24. 101;
Peters, a. a. O. erwägt für gr. ἀκούω und seine
germ. Verwandten dagegen Reflexe eines
uridg. Intensivums *h₂kōs-ie/o-; doch müßte
die urspr. Reduplikation des Intensivums im
Gr. Spuren hinterlassen haben).

2. Urgerm. *χazie/a- usw. wird häufig als s-
Erweiterung zu einer Wz. uridg. *(s)keh₁-
wahrnehmen gestellt, die in ai. ā-kuváte be-
absichtigt
(< *-kuh₁eto), -kūta- n. Absicht
(< *-kuh₁to-), gr. κοέω bemerke, vernehme,
höre
(< Iterativ *[s]koh₁-ée/o-), lat. caveo
sehe mich vor (*koh₁-ée/o- mit Wandel
von *o > *a gemäß der Thurneysen-
Havetschen Regel; vgl. lat. cavus gewölbt,
hohl
< *ko[h]o-; Meiser 1998: § 61, 7) und
mit s-mobile in ahd. skouwôn sw. v. II schau-
en
< urgerm. *skaōe/a- < *skoh₁ah₂e/o-
vorliegt. Doch müßte dann die schlüssige
Verbindung mit gr. ἀκούω aufgegeben wer-
den.

3. Rückführung von gr. ἀκούω und seiner
germ. Verwandten auf uridg. *h₂-h₂os-é/ó-
sich verhalten wie einer, der ein scharfes Ohr
hat
, ein Denominativ mit dem Suffix *-e/o-
von einem Syntagma *h₂- scharf (z. B. fort-
gesetzt in lat. acus, gen.sg. -ūs Nadel) und
*h₂os- Ohr ( ôra) scharfe Ohren ha-
bend
(vgl. Steinbauer 1989: 86; ähnlich be-
reits P. Kretschmer, ZVSp 33 [1895], 565; K.
F. Johansson, IF 3 [1894], 199). Doch würde
man dann die Bedeutung lauschen, heimlich
lauschen
erwarten.

4. Unwahrscheinlich ist C. H. Borgstrøms ad-
hoc-Erklärung des gr. vokalischen Anlauts
durch eine Verschiebung der Wortgrenze in
einem angenommenen Syntagma *káh₂
h₃osesi Was hörst du > *k ákosesi mit
Sandhi-Entwicklung *h₂ *h₃ > *k (bei Linde-
man 1997: 153).

Walde-Pokorny 1, 369; Pokorny 587; LIV² 561; Mayr-
hofer, K. et. Wb. d. Aind. 1, 187 f.; ders., Et. Wb. d. Alt-
indoar. 1, 328; Frisk, Gr. et. Wb. 1, 57 f. 890 f.; Chan-
traine, Dict. ét. gr. 50 f. 551; Walde-Hofmann, Lat. et.
Wb. 1, 186 f.; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 107; Hessens
Ir. Lex. 1, 71; Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. A-103;
Dict. of Irish A-479. W. Stokes, ZVSp 38 (1905), 460;
E. Polomé, in Winter 1960: 40; Beekes 1969: 50; Wer-
ba 1997: 276; Lühr 2000: 43; Mayrhofer 2005: 47.

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