harnAWB m. a-St., seit dem 9. Jh. in Gl.:
‚Harn, Urin; lotium, urina‘ 〈Var.: harin,
harm〉. Zum vereinzelten Auftreten eines
Sproßvokals zwischen r und n vgl. Braune-
Reiffenstein 2004: § 69 Anm. 4. Zu -m statt
-n vgl. Paul 1998: § 125 (vgl. auch bair.
harm [Schmeller, Bayer. Wb.² 1, 1162] und
die Ableitung mhd. hurmen ‚mit Jauche
düngen‘ [Lexer 1, 1396]; vgl. als Parallele
turn → turm ‚Turm, Gefängnis‘). — Mhd.
harn st. m./n. ‚Harn‘, nhd. Harn m. ‚Urin‘.
Ahd. Wb. 4, 723; Splett, Ahd. Wb. 1, 356; Köbler, Wb. d.
ahd. Spr. 850; Schützeichel⁶ 150; Starck-Wells 256;
Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 179 f.; Graff 4,
1035; Lexer 1, 1185; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 381 (lo-
tium). 689 (urina); Dt. Wb. 10, 487; Kluge²¹ 290; Klu-
ge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et. Wb.² 510.
Ahd. harn < westgerm. *χarna- ist auf das
hd. Sprachgebiet beschränkt (da mndl.
har[e]n ‚Urin‘ lediglich in den östlichen Di-
al. belegt ist, liegt die Annahme einer Ent-
lehnung aus dem Dt. nahe). Es handelt sich
um eine s-lose Variante zu den danebenste-
henden Formen: mndd. scharn; mndl.
sc(h)arn, schern ‚Mist, Dreck‘, nndl. dial.
veralt. scharn ‚Mist‘; afries., nfries. skern
‚Mist‘; ae. scearn, me. sharn, ne. dial. sharn
‚Mist, Dung, Jauche‘ (dagegen aus dem
Skand. ne. dial. scarn, scairn; vgl. Thorson
1936: 43); aisl., nisl., fär., ndän., nnorw.,
nschwed. skarn ‚Mist, Dünger‘: < urgerm.
*skarna-. Die Form mit s-mobile ist auch im
Dt. fortgesetzt → sker(i)ling ‚Schierling‘.
Aus dem Germ. oder Skand. ist finn.
ka(a)rna ‚Schmutz-, Rußschicht, erstarrter
Dreck‘ entlehnt (Kylstra, Lehnwörter 2, 2 f.).
Fick 3 (Germ.)⁴ 78. 456; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 3,
161; 7, 327; Holthausen, Afries. Wb.² 96; Richthofen,
Afries. Wb. 1028; Fryske wb. 19, 249; Doornkaat
Koolman, Wb. d. ostfries. Spr. 3, 100 f.; Dijkstra,
Friesch Wb. 2, 99; Holthausen, Ae. et. Wb. 274; Bos-
worth-Toller, AS Dict. 825; ME Dict. s. v.; OED² s. v.;
Vries, Anord. et. Wb.² 485; Bjorvand, Våre arveord
791; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 842 f.; Fritzner, Ordb. o.
d. g. norske sprog 3, 292; Holthausen, Vgl. Wb. d.
Awestnord. 248; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 986;
Nielsen, Dansk et. ordb. 370; Ordb. o. d. danske sprog
19, 259; Torp, Nynorsk et. ordb. 588; Hellquist, Svensk
et. ordb.³ 928; Svenska akad. ordb. s. v.
Urgerm. *χarna-/*skarna- < vorurgerm.
*(s)korno-, stellt — wie aus den Entsprechun-
gen in den anderen idg. Sprachen hervorgeht
— eine Umbildung mit sekundärer Themati-
sierung eines ehemaligen r/n-Heteroklitikons
nom. *sék/k̂-ōr, gen. sk/k̂-n-és unter Eindrin-
gung von *n in den Stamm dar (zur Vermi-
schung der beiden Stammalternanten vgl.
den Dat. adän. ūtrin zu jur ‚Euter‘; →
ût[a]r[o]). Hiermit unmittelbar zu verglei-
chen ist lett. (pl.) sãrņi ‚Schlacken, Men-
struation, Exkremente‘ < *(s)k/k̂orni̯oi̯ (zum
Lautlichen vgl. Forssman 2001: 82. 94 f.).
Auszugehen ist von einem ursprünglichen
Kollektivum uridg. nom. *sék/k̂-ōr, gen.
sk/k̂-n-és, wobei sämtliche Fortsetzer die
auch bei anderen Kollektiva belegte sekun-
däre Schwundstufe der Wurzel mit Ver-
schiebung des Akzents auf das dehnstufige
Suffix im Nom. zeigen (vgl. dazu etwa heth.
ut-tar ‚Wort, Rede‘, gr. ὕδωρ ‚Wasser‘):
nom. sk/k̂-ṓr, gen. sk/k̂-n-és. Der Nom. ist di-
rekt fortgesetzt in heth. zasgar- (nur verbaut
in zasgarais ‚After, Kotöffnung‘) und gr.
σκῶρ ‚Kot, Exkrement‘ (gen. σκατός mit se-
kundärem *-t- < vorurgr. *sk--t-; vgl. zu
dieser Art der Umbildung gr. nom.sg. ὕδωρ
‚Wasser‘, gen.sg. ὕδατος < vorurgr. *-d--t-).
Bei uridg. *sék/k̂-ōr handelt es sich um ein
Kollektiv zu einem Neutr. uridg. nom./
akk.sg. *sók/k̂-, gen.sg. sék/k̂--s, fortge-
setzt in heth. nom./akk.sg. sa-ak-kar ‚Kot,
Schmutz‘ (daneben mit sekundärem Anlaut —
„mit Vorwegnahme des Nasals in den obli-
quen Kasus, Epenthese eines dentalen Ver-
schlußlautes und anschließender Vereinfa-
chung der Gruppe“ [Rieken 1999: 295] — za-
ak-kar), gen.sg. sa-ak-na-as (mit Durchfüh-
rung der o-Stufe und Ersatz von *-s durch
die übliche Gen.-Endung heth. -as).
Daneben steht noch ein s-St. uridg. nom.sg.
*sék/k̂-ōs, gen.sg. *sk/k̂-s-és, der unter
Durchführung der schwundstufigen Alter-
nante in heth. isgas- (nur in der Ableitung
isgasuuant- ‚kotig‘) vorliegt.
Da die Wurzel somit als uridg. *sek/k̂- (nicht
wie früher als *sk̂er-) anzusetzen ist, bleibt
ai. chnatti ‚speit, gießt‘ < *sk̂-né/n-d-, n-
Infix-Präs. zu einer Wurzel uridg. *sk̂erd-
‚auswerfen‘ fern (LIV² 547; Mayrhofer, K. et.
Wb. d. Aind. 1, 409; ders., Et. Wb. d. Altin-
doar. 1, 557; das hierher gestellte mir. sceir-
dim ‚speie aus‘ ist mit R. Thurneysen, ZCPh
20 [1936], 202 ff.; Vendryes, Lex. ét. de l’irl.
anc. S-39 zu trennen).
Unwahrscheinlich, da die Form mit s-mobile nicht be-
rücksichtigt wird, ist die Herleitung durch Venne-
mann 2003: 244 f. von Harn aus bask. gernu, garnu
‚Urin‘ (zustimmend in dessen Rezension C. Peust, ZS
24 [2005], 128).
Wohl nicht zu einer sekundär gebildeten Verbalwz.
*sk̂er- (obwohl lautlich und semantisch nichts gegen ei-
ne solche spräche), sondern zu einer Verbalwz. uridg.
*k̂er(H)- ‚scheißen‘ (vgl. LIV² 327) gehören: russ. srat’,
ukrain. sráty, serbo-kroat. srȁti, slowen., tschech.
srát, slowak. srat’, poln., osorb. srać, ndsorb. sraś
‚Notdurft verrichten, scheißen‘ < urslaw. *sьrati <
*k̂er-, wozu ablautend russ. sór ‚Kehricht, Unrat‘ <
*k̂or-; lat. -cerda (in mūscerda ‚Mäusekot‘, sucerda
‚Schweinekot‘, ovicerda ‚Schafkot‘) < *k̂er-t- (zur
Dentalerweiterung vgl. N. Oettinger, FS Neumann
1982: 235, der -cerda jedoch auf *sk̂--t- zurückführt,
so daß eigtl. *mūs-scerda anzusetzen wäre, woraus
mit Fehlanalyse anstelle von *mus-scerda nicht
*-scerda, sondern -cerda abgeleitet wäre; das -d- ist
wohl sekundär nach der Reimwortbildung merda ‚Un-
rat, Kot, Exkremente‘); av. sairiia- (in sairehiia- ‚Vor-
richtung zum Dörren von Mist, Mistdarre‘) < *k̂e/or-i̯o-.
Ein formal und semantisch ähnliches Heteroklitikon
liegt vor in ai. śákar- n. ‚Dung, Kot, Exkremente‘
(nom./akk.sg. śákt, gen.sg. śaknáḥ) < uridg. *k̂oku̯r-/
-n- (vgl. Mayrhofer, Et. Wb. d. Altindoar. 2, 602).
Walde-Pokorny 2, 587 f.; Pokorny 947 f.; Bartholomae,
Airan. Wb.² 1565; Frisk, Gr. et. Wb. 2, 746; Chantraine,
Dict. ét. gr. 1026; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 2,
133 f.; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 424; Trautmann,
Balt.-Slav. Wb. 303; Vasmer, Russ. et. Wb. 2, 696 f. 711;
Schuster-Šewc, Hist.-et. Wb. d. Sorb. 1347 f.; Mühlen-
bach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 3, 806 f.; Kronasser, Etym.
d. heth. Spr. 48. — Rieken 1999: 225. 295 f.