hertî², hertin f. īn- und ō-St. (zur Dekl.
der urspr. -inō-Stämme → burdin und vgl.
Braune-Reiffenstein 2004: § 211 Anm. 3b),
in Gl. seit dem 8. Jh.: ‚Schulterblatt, Schul-
ter, Achsel; scapula, spatula, umerus‘ 〈Var.:
hartin, harti (zum fehlenden Umlaut vgl.
Braune-Reiffenstein 2004: § 277〉. — Mhd.
herte ‚Schulterblatt‘.
Ahd. Wb. 4, 1017 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 357 (s. v.
hart¹); Köbler, Wb. d. ahd. Spr. 520; Starck-Wells
257 (hartin, hartī); Schützeichel, Glossenwortschatz
4, 303; Seebold, ChWdW8 161; Lexer 1, 1266 (s. v.
herte).
Die einzigen germ. Entsprechungen sind aisl.
herðar f.pl. ‚Schultern‘ (< *harþijōz), norw.
dial. herd, ndän. dial. hærde, aschwed. hærþ
‚Schulter‘ (aus dem Skand. entlehnt finn.
hartio, hartia, weps. hardio-d, lapp. [norw.]
harddo; vgl. Kylstra, Lehnwörter 1, 84).
Fick 3 (Germ.)⁴ 78; Vries, Anord. et. Wb.² 223;
Jóhannesson, Isl. et. Wb. 845; Holthausen, Vgl. Wb. d.
Awestnord. 112; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 449;
Torp, Nynorsk et. ordb. 210; Hellquist, Svensk et.
ordb.³ 959 (s. v. skuldra).
Urgerm. *χarþi-i̯ō-, -nō- geht wohl auf die
Wz. uridg. *(s)kerH- ‚schneiden‘ zurück,
wahrscheinlich in der Bedeutung ‚ein flaches
(abgespaltenes) Stück‘ (vgl. G. S. Lane,
JEGP 32 [1933], 293 f.). Anlautendes s- hat
ahd. (Notker) skerte pl. ‚Schultern‘ (s. d.),
nhd. mdartl. schweiz. schert(e), scherten
‚Schulter(blatt)‘ (Schweiz. Id. 8, 1310 f.). Zur
Bedeutung vgl. bes. mir. scíath ‚Flügel,
Schwinge‘ (< ‚Schulterblatt‘; vgl. kymr.
ysgwydd ‚Schulter(blatt)‘, akorn. scuid ‚sca-
pula‘, mkorn. scouth, bret. skoaz ‚Schulter‘;
Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. S-43; Peder-
sen [1909—13] 1976: 1, § 49, 2) zur Wz.
*ski̯- ‚schneiden‘ (Pokorny 920), vielleicht
auch ahd. skultira ‚Schulter‘ (s. d.) zur Wz.
*(s)kel- ‚schneiden‘ (etwas anders Pokorny
925; s. u.). Zur Bedeutung ‚ein flaches Stück‘
vgl. auch lat. spatula ‚Rührlöffel, Schulter-
blatt‘, nhd. (Schulter-)Blatt, ne. (shoul-
der-)blade; russ. lopátka ‚Schaufel‘, poln.
łopatka ‚Schulterblatt‘ (russ. lopáta, poln.
łopata ‚Schaufel‘, zur Wz. *lep- ‚flach sein,
Hand, Fußfläche, Schulterblatt, Ruderblatt‘;
Pokorny 679).
Dagegen wird lat. scapula(e) meistens auf ein Wort
für ‚Schaufel‘ = ‚Gräber‘ zurückgeführt, das wie gr.
σκάπτω ‚grabe‘, σκαπάνη f. ‚Hacke, Grabscheit‘ zur
idg. Wz. *(s)kap- ‚schneiden, spalten, graben‘ gehört
(vgl. Pokorny 932; Walde-Hofmann, Lat. et. Wb. 2,
489 f.). Es ist aber möglich, daß auch dieses Wort
stattdessen urspr. ‚ein abgeschnittenes Stück‘ bedeute-
te: zur selben Wz. gehören nämlich russ. ščepá
‚Holzspan‘, lett. šķẽpele ‚ein abgesplittertes oder ab-
geschnittenes Stück, das breite Ende am Ruder‘, lat.
scāpus m. ‚Schaft, Stiel, Stengel, Stamm‘, scōpa f.
‚dünner Zweig, Reis‘, ahd. skaft ‚Schaft, Speer‘ (s. d.)
usw. (Pokorny 932 f.).
Die zahlreichen Beispiele von Wörtern, die
sowohl ‚Schaufel‘ als auch ‚Schulterblatt‘
bedeuten (vgl. auch nhd. mdartl. Schaufel
[meist. Dimin.] ‚Schulterblatt eines Schlacht-
tieres‘; Schweiz. Id. 8, 384; Fischer, Schwäb.
Wb. 5, 723) gehen fast alle auf eine Grund-
bedeutung ‚ein flaches, abgespaltenes oder
abgeschnittenes Stück‘ (vgl. auch nhd.
Scheit, zur selben Wz. wie mir. scíath s. o.,
in Grabscheit) zurück. Wahrscheinlich ist
die Bedeutung ‚ein flaches Werkzeug‘ älter,
und das Schulterblatt wurde als ‚ein schau-
felähnliches Stück‘ bezeichnet. Wenigstens
in den slaw. Sprachen muß das der Fall sein,
da die Wörter für ‚Schulterblatt‘ Diminutiva
von den Wörtern für ‚Schaufel‘ sind. Daß
diese Bezeichnungen aber durch die primiti-
ve Verwendung der Schulterblätter als
Werkzeuge zu erklären sind (Walde-
Hofmann, a. a. O. 2, 489 f.; Pokorny 925.
932), ist sehr unwahrscheinlich, da die ver-
schiedenen Belege räumlich weit verbreitet
sind.
Abzulehnen ist die Erklärung von urgerm. *χarþi-i̯ō-,
-nō- als Substantivierung des Adj. *harþaz ‚hart‘ (→
hart, hertî¹) bei Holthausen, a. a. O., Lexer, a. a. O.
u. a. (vgl. Notker, skerte mit s-, auch bildet das -inō-
Suffix keine subst. Adj.); auch der Vergleich mit russ.
kórtyški (Fick 3, a. a. O.; Zupitza 1896: 115; Falk-
Torp, a. a. O. u. a.), denn das russ. Wort bedeutet nicht
‚Schulter‘, sondern ‚Lederriemen am Fuße des Jagd-
vogels‘ (Berneker, Slav. et. Wb. 1, 671; Vasmer, Russ.
et. Wb. 1, 636); ebenso der Vergleich mit lat. cartila-
go (H. Hirt, PBB 23 [1898], 351; vgl. Walde-
Hofmann, a. a. O. 1, 174 f.).