lesan st.v. V (prät. las, lârum, part.prät.
gileran), im Abr (1,90,27 [Pa, Kb]. 160,3
[Pa]. 202,37. 203,1 [Kb, Ra]. 264,25 [Kb]);
Gl. 2,310,12. 51 (beide Ende des 8./Anfang
des 9. Jh.s, alem.) und in weiteren Gl., B,
GB, T, OT, WB, O, Oh, Ol, Os, KV, Ch,
MF, NBo, NMC, Ni, Nps, Npw und WH:
‚sammeln, auflesen, verlesen, zusammentra-
gen, lesen, vorlesen, vortragen, studieren,
durchmustern, nachforschen; accipere, aedi-
ficare, colligere, lectitare, legere, praelege-
re, recensēre, recitare‘, subst. lesan ‚Stu-
dium; studium‘, subst. Part.Präs. lesanter
‚Vorleser; lecturus‘ 〈Var.: part.prät. ka-, ke-,
ga-, ge-〉. Bereits im 9. Jh. ist der gram-
matische Wechsel meist ausgeglichen: prät.
pl. lâsum, part.prät. gilesan (Braune-Reif-
fenstein 2004: § 343 Anm. 2). — Mhd. lesen
st.v. ‚auswählend sammeln, aufheben, an
sich nehmen, in Ordnung bringen, in Falten
legen, wahrnehmen, lesen, vortragen‘ (Pl.
lâsen, Part.Prät. gelesen ohne grammatischen
Wechsel für seltenes lâren, geleren; Paul
2007: § L 65 Anm. 4), frühnhd. lesen ‚auf-
lesen, sammeln, (Trauben) lesen, verlesen,
vortragen, lehren, unterrichten‘, nhd. lesen
st.v. ‚etw. Geschriebenes erfassen, vorlesen,
Vorlesungen halten, Daten aus einem Daten-
träger entnehmen, auflesen, sammeln, ernten‘.
Ahd. Wb. 5, 850 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 528; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 717; Schützeichel⁷ 198; Starck-Wells
370; Schützeichel, Glossenwortschatz 6, 58 f.; Berg-
mann-Stricker, Katalog Nr. 253. 296 (II). 298 (I).
747; Seebold, ChWdW8 189; ders., ChWdW9 508;
Graff 2, 246 ff.; Lexer 1, 1888 f.; 3, Nachtr. 297;
Frühnhd. Wb. 9, 1027 ff.; Diefenbach, Gl. lat.-germ.
322 (lectitare, legere); Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 7
(accipere). 115 (colligere). 370 f. (legere). 556 (re-
citare); Dt. Wb. 12, 774 ff.; Kluge²¹ 436 f.; Kluge²⁵
s. v. lesen; Pfeifer, Et. Wb.² 792 f. — LM 5, 1908 f. (zu
den Lesegewohnheiten im Mittel- und Hochmittel-
alter); Ch. Petzsch, ASNS 224 (1987), 352—355 (zum
Bedeutungsspektrum von ahd. lesan).
Das Wort ist gemeingerm. Ursprungs. Es
entsprechen: as. lesan st.v. V ‚lesen, aufle-
sen, sammeln, einsammeln; legere‘ (prät.
las, lâsum, part.prät. gilesan mit Aufgabe
des grammat. Wechsels; Gallée 1993: § 395
Anm. 2) im Hel, in WaD 17, 10. 18, 3,
mndd. lēsen st.v. ‚lesen, sammeln, aufsam-
meln, auslesen, laut lesen, vortragen, Vor-
lesungen halten‘ (3.sg.präs. lēs[e]t, list, prät.
las, lēsen, part.prät. [ge-]lēsen); andfrk. le-
san st.v. V ‚sammeln, lesen, etwas Geschrie-
benes erfassen‘ (a. 1100), frühmndl., mndl.
st.v. lesen ‚sammeln, auflesen, pflücken,
vorlesen, unterweisen, vortragen, studieren‘,
nndl. lezen ‚sammeln, versammeln, sortieren,
Geschriebenes zur Kenntnis nehmen‘; afries.
lesa, lasa, lēsa st.v. ‚lesen, verlesen‘ (3.sg.
prät. lēs, part.prät. gelesen), nwestfries. lēze
st./sw.v. ‚lesen, vorlesen, auslegen, interpre-
tieren, bemerken, wahrnehmen‘ (prät. lies,
liezen, lēzen; lēsde, lēsd), saterfries. leze ‚le-
sen‘, nnordfries. ljise ‚lesen‘; ae. lesan st.v.
‚zusammenlesen, sammeln‘ (prät. læs, lǣson,
part.prät. lesen), me. lēsen ‚aufsammeln, auf-
lesen‘ (prät. ls[e], part.prät. lēsed), seit dem
14. Jh. als sw.v., ne. veralt. und mdartl. lease
‚(Ähren) auflesen‘; aisl. lesa st.v. ‚nach und
nach aufnehmen, auflesen, lesen‘ (prät. les,
las, part.prät. lesinn), nisl., fär. lesa, adän. læ-
sæ ‚Gebet halten, sammeln‘, dän. læse ‚sam-
meln‘, nnorw. (bm.) lese, (nn.) lesa, aschwed.
læsa, nschwed. läsa ‚pflücken, sammeln‘,
urspr. bedeutete das Verb im Nordgerm. nur
‚nach und nach aufnehmen, aufsammeln,
auslesen‘ (vgl. auch entlehntes ostseefinn.
lesiä ‚Getreide reinigen, entblättern, enthül-
sen‘, das sich von einer urspr. Bed. ‚aus-
lesen‘ herleiten lässt). Die Bed. ‚lesen‘ ist
erst später unter dt. Einfluss hinzugekommen
(s. d.). Got. lisan* st.v. V ‚sammeln; συλλέ-
γειν‘, galisan ‚sammeln; συνάγειν‘ (3.pl.prät.
galesun, part.prät. nom.pl.m. galisanans): <
urgerm. *lese/a- ‚auflesen, sammeln, ausle-
sen‘. Nur in Teilen des Westgerm. (im Ahd.,
As., Andfrk. und Afries., jedoch nicht im
Ae., auch nicht im Got.) tritt neben der
Grundbed. noch die Bed. ‚lesen‘ (als geistige
Tätigkeit, zunächst ‚laut‘ [= vorlesen], dann
auch ‚leise‘ [= stilles Lesen]) auf. Sicher han-
delt es sich um eine gelehrte Bedeutungs-
entlehnung des westgerm. Festlandes, wo die
latein- und griechischkundigen Mönche nach
dem Vorbild von lat. legō ‚lese auf, sammle,
durchlaufe, gehe entlang, lese aus, lese‘ und
gr. λέγω, ἀναλέγω ‚lese auf, sammle, zähle,
erzähle, rede, trage vor, lese vor‘ auch für
ahd. lesan die Bed. ‚lesen‘ übernahmen. Für
eine Bed.entlehnung und keine ererbte Bed.
spricht, dass im Got. und Ags. andere Ver-
ben für ‚lesen‘ gebraucht werden (s. u.).
Nicht haltbar ist die bei Kluge²¹ 437 (nicht
mehr Kluge²⁵), Vries, Ndls. et. wb. 396 u. a.
geäußerte Auffassung, dass lesan urspr. den
Vorgang des Auflesens der Runenstäbchen
bezeichnete und damit das Enträtseln von
Runen. Dagegen spricht, dass für das Ru-
nenlesen nie lesan verwendet wurde (vgl.
z.B. ae. rǣdan ‚raten, lesen‘, eigtl. ‚Runen
deuten‘ [s. râtan]). Hinzu kommt, dass die
Bed. ‚lesen (als geistige Tätigkeit)‘ nur auf
dem westgerm. Festland begegnet. Einen an-
deren Ausgangspkt. für die Benennung zeigt
das Got., wo nur das st.v. III siggwan ‚sin-
gen, ᾄδειν; vorlesen, ἀναγινώσκειν‘, eigtl.
‚rezitierend vortragend‘ (s. singan) begegnet
(Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 419; Lehmann,
Gothic Et. Dict. S-51). Im Germ. existiert
demnach kein einheitlicher, gemeinsamer
Begriff für die Tätigkeit des Lesens.
Fick 3 (Germ.)⁴ 364; Seebold, Germ. st. Verben
332 f.; Tiefenbach, As. Handwb. 237; Sehrt, Wb. z.
Hel.² 332; Berr, Et. Gl. to Hel. 240; Wadstein, Kl. as.
Spr.denkm. 204; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2,
1, 792 f.; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 2, 671; ONW
s.v. lesan; VMNW s. v. lesen²; Verwijs-Verdam,
Mndl. wb. 4, 389 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 382;
Vries, Ndls. et. wb. 396; Et. wb. Ndl. Ke-R 215 f.;
Hofmann-Popkema, Afries. Wb. 296 f.; Richthofen,
Afries. Wb. 893; Fryske wb. 12, 227 f.; Dijkstra,
Friesch Wb. 2, 117; Fort, Saterfries. Wb. 129; Sjölin,
Et. Handwb. d. Festlnordfries. XXXIII; Holthausen,
Ae. et. Wb. 200; Bosworth-Toller, AS Dict. 635;
Suppl. 614; ME Dict. s. v. lēsen v.¹; OED² s. v. lease
v.¹; Vries, Anord. et. Wb.² 353; Jóhannesson, Isl. et.
Wb. 758. 1072; Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog
2, 485 f.; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 179;
Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 677; Magnússon, Ísl.
Orðsb. 557 f.; Nielsen, Dansk et. ordb. 273; Ordb. o.
d. danske sprog 13, 461 ff.; Bjorvand, Våre arve-
ord² 652; Torp, Nynorsk et. ordb. 375 f.; NOB s. v.
lese; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 610 (s. v. läsa¹);
Svenska akad. ordb. s. v. läsa v.²; Feist, Vgl. Wb. d.
got. Spr. 331; Lehmann, Gothic Et. Dict. L-42; Kyl-
stra, Lehnwörter 2, 194.
Urgerm. *lese/a- geht auf vorurgerm. *lés-
e/o- zurück. Entsprechungen finden sich nur
im Balt. und Heth. Die gleiche Vorform gilt
für lit. lèsti (-sù, -siaũ) ‚picken, pickend
fressen‘, lett. lest (-šu, -su) ‚aufpicken, pi-
ckend fressen, zählen‘ < vorurbalt. *lése/o-
neben ī-stämmigen lit. inf. lasýti ‚picken,
auslesen, aussuchen‘, lett. inf. lasît (-u, -ĩju)
‚auflesen, sammeln, suchen, aussuchen, aus-
wählen, lesen‘ < vorurbalt. *los-ih₂-téi̯. Be-
reits F. Sommer, OLZ 42 (1939), 680 Anm.
2 stellt auch heth. lešš-mi ‚auflesen, sam-
meln‘ (3.sg.präs. li-[i]-š-is-zi) zu Recht hier-
her (vgl. Oettinger 1979: 206).
Neben vorurgerm. und vorurbalt. *les- exis-
tiert mit derselben Grundbed., nur mit einem
anderen wz.schließenden Kons. eine Varian-
te *leĝ-, die im Gr., Lat. und Alb. fortgesetzt
ist: gr. λέγω ‚lese auf, sammle, zähle, er-
zähle, rede, spreche‘, lat. legō ‚lese auf, le-
se zusammen, sammle, wähle aus, durchlau-
fe, lese‘, päl. lexe ‚habt gelesen‘ < vorurgr.,
vorurlat. *léĝe/o- und aalb. ënbëlidh, alb.
mbledh ‚sammeln, versammeln‘ < voruralb.
*h₂bhi-léĝe/o-, wobei alb. dh einen Ansatz
mit palatalem *ĝ fordert (vgl. Matzinger
2006: 91).
Walde-Pokorny 2, 422. 440; Pokorny 658. 680; LIV²
397. 413 f.; Frisk, Gr. et. Wb. 2, 94 ff.; Chantraine,
Dict. ét. gr. 625 f.; Beekes, Et. dict. of Gr. 1, 841 f.;
Untermann, Wb. d. Osk.-Umbr. 429 f.; Walde-Hof-
mann, Lat. et. Wb. 1, 780 (s. v. legō²); Ernout-Meillet,
Dict. ét. lat.⁴ 348 f.; de Vaan, Et. dict. of Lat. 332 f.;
Thes. ling. lat. 7, 2, 1114 ff.; Demiraj, Alb. Et. 261 f.;
Orel, Alb. et. dict. 251; Trautmann, Balt.-Slav. Wb.
160; Fraenkel, Lit. et. Wb. 359; Smoczyński, Słow. et.
jęz. lit. 347 f.; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 2,
423 f. 454; 5, Nachtr. 735; Karulis, Latv. et. vārd. 1,
503 f.; Kronasser, Etym. d. heth. Spr. 473; Tischler,
Heth. et. Gl. L-M 64; Kloekhorst, Et. dict. of Hitt.
525. — Porzig 1974: 191 f. 211; CHD L-N 72; Klin-
genschmitt 1982: 281 Anm. 3; Huld 1984: 145. 156;
Matzinger 2006: 49. 121.