lockôn, lochôn
Volume V, Column 1427
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lockônAWB, lochôn²AWB sw.v. II, im Abr, Sam
und weiteren Gl., O, Ol, WH und Npw: lo-
cken, verlocken, verführen, auffordern, drin-
gend bitten, bedrängen, erfreuen, ermutigen,
aufrichten, streicheln, liebkosen, schmei-
cheln, fördern, besänftigen, lindern, heilen;
allicere, blandiri, delenire, demulcere, e-
blandiri, favēre, flagilare, fovēre, inculcare,
lactare, lenocinari, mulcere, nutrire, oblec-
tare, palpare, provocare, refovēre
Var.:
locch-, loch-, lohk-, lohc-, loh-. Der Gl.-
beleg 3.sg.präs. hlohot (1,138,21 [Ra]) zeigt
anl. unetym. h-. Die ahd. Formen mit -ch-,
die auf einen Frikativ deuten, sind keine Va-
rianten im eigtl. Sinne, sondern beruhen auf
bereits im Urgerm. entstandenen lautlichen
Unterschieden im zugrunde liegenden Fle-
xionsparadigma (s. u.). Mhd. locken sw.v.
locken, anlocken, verlocken, frühnhd. lo-
cken veranlassen, reizen, verlocken, verlei-
ten
, phras. nicht einen hund aus dem ofen
locken, nhd. locken durch Rufe oder Lock-
mittel veranlassen, sich zu nähern [Tier],
durch Versprechungen zu etw. veranlassen,
verführen
.

Ahd. Wb. 5, 1255 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 562; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 736; Schützeichel⁷ 206; Starck-Wells
383; Schützeichel, Glossenwortschatz 6, 145 ff.;
Bergmann-Stricker, Katalog Nr. 298 (I); Seebold,
ChWdW8 198; ders., ChWdW9 536; Graff 2, 144;
Lexer 1, 1950 f.; 3, Nachtr. 303; Frühnhd. Wb. 9,
1319 ff.; Diefenbach, Gl. lat.-germ. 24 (allicere); Dt.
Wb. 12, 1105 ff.; Kluge²¹ 444; Kluge²⁵ s. v. locken;
Pfeifer, Et. Wb.² 808 (locken²).

Das ahd. Verb hat folgende Entsprechungen:
as. lokkon locken, anlocken; mulcere (Gl.
2,713,12 [11. Jh.]; 4,205,57 [1. Drittel des
11. Jh.s], beide möglicherweise ahd.), mndd.
locken locken, anlocken; andfrk. lokkon sw.
v. anlocken, jmdn. überreden, sich zu nä-
hern
(LeidW), frühmndl., mndl. locken lo-
cken, an sich ziehen
, nndl. lokken; ae. (spät)
loccian locken (früher geloccian demulce-
re, delinire
); aisl. lokka locken, nnorw.
(bm.) lokke, (nn.) lokka, lokke, ndän. lokke,
nschwed. locka: < urgerm. *lukk-ō-e/a-. Da-
neben findet sich als weitere Stammbildung
noch urgerm. *lukk-ie/a- > ahd. luchen sw.
v. I (s. d.).

Fick 3 (Germ.)⁴ 374; Tiefenbach, As. Handwb. 249;
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 845; ONW
s. v. lokkon; VMNW s. v. locken; Verwijs-Verdam,
Mndl. wb. 4, 743 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 395;
Suppl. 103; Vries, Ndls. et. wb. 408 f.; Et. wb. Ndl.
Ke-R 253; Holthausen, Ae. et. Wb. 205; Bosworth-
Toller, AS Dict. 410 (geloccian); Suppl. 620; Vries,
Anord. et. Wb.² 408 f.; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 744;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 2, 557 f.; Holt-
hausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 185; Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 653; Magnússon, sl. Orðsb. 575
(lokka¹); Nielsen, Dansk et. ordb. 265 (lokke²); Ordb.
o. d. danske sprog 12, 1153 ff.; Bjorvand, Våre arve-
ord² 675; Torp, Nynorsk et. ordb. 389; NOB s. vv.
(bm.) lokke¹, (nn.) lokka¹, lokke¹; Hellquist, Svensk et.
ordb.³ 584; Svenska akad. ordb. s. v. locka v.². Gal-
lée [1903] 1977: 199; Bergmann-Stricker, Katalog
Nr. 752. 877.

Die Etymologie von urgerm *lukk-ō-e/a- ist
schwierig, besonders wegen der Überfülle an
scheinbar nicht miteinander zu verbindenden
Bed. (bei O z.B. sowohl erfreuen als auch
für sich gewinnen [kaum locken; vgl. Kel-
le [185681] 1967: 3, 370]). Die herkömm-
liche Etym., die das Verb aus der Wz. uridg.
*legh- lügen ableitet (vgl. z.B. Fick 3,
a. a. O.; Pokorny 686 f.; Pfeifer, a. a. O. u. a.),
ist abzulehnen, da die Bed. verlocken und
verführen erst seit dem 11. Jh. belegt sind
und kaum als urspr. gelten können.

Andere Erklärungen gehen von der heutigen
Bed. locken aus, aber auch diese scheint (in
allen germ. Sprachen) eine jüngere Entwick-
lung zu sein (s. u.). Deshalb ist eine Grund-
bed. ziehen (vgl. J. van Lessen, TsNTL 53
[1934], 28 ff.) unwahrscheinlich; anders Lühr
1988: 347 f.: jmdn. weich machen. Auch J.
Triers Erklärung, dass das Wort urspr. das
Vieh mit einem Laubbüschel locken
(dt.
mdartl. lock[e], engl. mdartl. lock [s. loc];
vgl. Trier 1963: 154 ff.; ders. 1981: 168 ff.),
die u. a. von E. Seebold, in Kluge²⁵ a. a. O.
angenommen wird, setzt eine urspr. Bed. lo-
cken
voraus. Doch macht eine chronologi-
sche Übersicht über die ahd. Belege diese
Auffassung sehr fraglich: 8. Jh.: auffordern,
bedrängen, schmeicheln
; 9.10. Jh.: erfreu-
en, trösten, lindern, (be-)fördern, streicheln,
schmeicheln, für sich gewinnen (nur einmal
bei O)
; 11.12. Jh.: ähnlich, aber auch: lo-
cken, verlocken, durch Schmeichelei verfüh-
ren
.

Schon Zupitza 1896: 164 und später Franck,
a. a. O. dürften die richtige Erklärung gefun-
den haben, indem sie das Verb zur Wurzel
uridg. *leg- biegen stellen und mit lit.
lùgnas biegsam, gelenkig, geschmeidig,
schmeichlerisch
, palugnùs geneigt, dienst-
fertig, schmeichlerisch
und lūgóti bitten
(dazu mit anderer Stammbildung auch lett.
lūgt [lùgt] bitten, flehen; vgl. Fraenkel, Lit.
et. Wb. 388 f.; Mühlenbach-Endzelin, Lett.-
dt. Wb. 2, 517 ff.) vergleichen. Franck schlägt
diese Etym. aber nur als eine Möglichkeit
unter anderen vor, zudem wurden die lit.
Wörter auch manchmal für Ableitungen aus
uridg. *legh- lügen gehalten (z.B. von F.
Specht, ZVSp 68 [1944], 36; vgl. auch J.
Endzelin, ZVSp 52 [1924], 114 ff.), weshalb
diese Etym. keine allgemeine Billigung ge-
funden hat.

Zur vorgenannten balt. Sippe gehört weiter-
hin lit. lù(n)ginti(s) (sich ein-)schmeicheln
(mit sekundärem, vielleicht expressivem mitt-
lerem -n-) und ist aufgrund seiner Morpho-
logie besonders wichtig. Aus lautlichen Er-
wägungen ist die balt. Sippe von Ableitun-
gen von der Wz. uridg. *legh- lügen klar
zu trennen: Lit. lùginti(s) lässt sich vielmehr
auf dasselbe Paradigma zurückführen, aus
dem letztlich auch ahd. lockôn und lochôn
hervorgegangen sind. Auszugehen ist von ei-
nem Paradigma uridg. 3.sg. *lug-néh₂-ti : ur-
idg. 3.pl. *lug-h₂-énti > urgerm. *lukkōþi :
*lukunanþi, woraus im Ahd. die beiden Stäm-
me lockō- : *loch° lochô- (mit erneuter
analogischer Überführung in die II. sw. Klas-
se) entstanden sind. Lit. lùginti(s) zeigt die
Verallgemeinerung des Pluralstamms uridg.
*lug-h₂- > urbalt. *lugin- und im Präs.st.
nachfolgende Thematisierung zu *lugina-.

Die Grundbed. war wohl sich (vor jmdm.)
biegen, beugen
, entweder aus Uneigennüt-
zigkeit (um jmdm. Ergebenheit, Zuneigung
zu erweisen, ihm gefällig zu sein, ihn zu
erfreuen
) oder aus Eigennützigkeit (um
sich etwas dadurch zu verschaffen, z.B. um
jmdn. um etwas anzuflehen, ihm zu schmei-
cheln oder durch gefälliges Benehmen oder
Schmeichelei zu [ver-]locken
).

Walde-Pokorny 2, 414; Pokorny 686 f.; LIV² 416
(*le[]-). 417 (?*legh-); Trautmann, Balt.-Slav. Wb.
163 (lugna-); Fraenkel, Lit. et. Wb. 388 f. (lùginti,
lùgnas, lūgóti). 390 (lùnginti[s]); Smoczyski, Słow.
et. jz. lit. 365 (lūgóti); Mühlenbach-Endzelin, Lett.-
dt. Wb. 2, 517 ff. (lūgt); Karulis, Latv. et. vārd. 1, 547
(lūgt); Toporov, Prusskij jazyk L 385 f.

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