gîrAWB m. a- oder i-St., seit Anfang des
9. Jh.s in Gl. und in NBo.; gîroAWB m. n-St., nur in
zwei Gl. des 11. und 13. Jh.s: ‚Geier; vultur,
(comedo)‘ 〈Var.: kir (9. Jh.); giir (9. Jh.); gyr
(10. Jh.); giger (12. Jh.); geir (ab dem 13. Jh.);
geier und geyer (ab dem 14. Jh.) mit Entwick-
lung von auslautendem /r/ zu -er; gair
(14. Jh.)〉. Da nur der Nom., Akk.Sg. und
Gen.Pl. -o überliefert sind, ist keine sichere
Angabe der Stammklasse möglich. — Mhd. gîr
st. m., gîre sw. m. ‚Geier‘, nhd. Geier (mit
Sproßvokal wie in den seit dem 14. Jh. beleg-
ten Varianten). In sprichwörtlichen Wendun-
gen wie Hol dich der Geier!, Weiß der Geier!,
die seit dem 15. Jh. bezeugt sind, steht ‚Geier‘
als Aasfresser verhüllend für ‚Teufel‘. Aus-
gangspunkt für den redensartl. Vergleich wie
ein Geier sein ‚habgierig sein‘ ist die Freßgier
des Geiers; vgl. auch Gl. 2,159,7, wo gyr lat.
comedo m. n-St. ‚Fresser‘ glossiert.
Ahd. Wb. 4, 284. 290; Splett, Ahd. Wb. 1, 304; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 429. 435; Schützeichel⁶ 135; Starck-
Wells 217. 218. XLII. 817; Schützeichel, Glossenwort-
schatz 3, 463 f. 467; Graff 4, 236 (ohne gîro); Lexer 1,
1019; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 721 (vultur); Dt. Wb. 5,
2559 ff.; Kluge²¹ 242; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et. Wb.²
523. — Paul 1989: §§ 57. 123 (zum Sproßvokal). — Kel-
ler [1909—1913] 1980: 2, 30—36; Kölling 1983: 52. 119.
162; Röhrich 2004: 1, 522 f.
Ahd. gîr, gîro hat nur in mndd. gīr st. m., gīre
sw. m. ‚Geier‘ und mndl. gier, gyr m., nndl.
gier m. ‚Geier‘: < westgerm. *gīra-/-an- direk-
te Entsprechungen.
Die Grundbedeutung der Vogelbezeichnung
ist ‚der den Schnabel aufsperrt, gierig ist‘, eine
Substantivierung eines mit -ra-Suffix gebilde-
ten Adj. urgerm. *īra-, das in mndl. gier ‚gie-
rig, habsüchtig‘ fortgesetzt ist. Im Ahd. ist das
Adj. in den beiden subst. verwendeten Kom-
posita hofegîr ‚am Hof schmarotzend‘ und
werltgîr ‚nach irdischen Genüssen verlan-
gend‘ (beides bei N) erhalten (Heidermanns,
Et. Wb. d. germ. Primäradj. 238). Daß das
Adj. auch im Ostgerm. existiert haben muß,
zeigt das Adj.abstraktum faihu-geiro ‚Hab-
sucht; πλεονεξία‘ (f. ōn-St.), das von einem
nicht belegten *faihu-geirs ‚habsüchtig‘ abge-
leitet ist und ein Simplex *geirs ‚gierig‘ vor-
aussetzt (Schubert 1968: 34).
Mit anderem Ableitungssuffix ist ae. gīw,
giow m. ‚Geier‘ (mit -w im Nom.Akk.Sg.
nach den obliquen Kasus; s. Brunner 1965:
§ 250 Anm. 2) < westgerm. *gīwa- gebildet.
Auch hier handelt es sich wie bei dem ahd.
Wort um ein substantiviertes Verbaladjektiv.
Fick 3 (Germ.)⁴ 133; Seebold, Germ. st. Verben 220;
Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 116; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 2, 113 f.; Verwijs-Verdam, Mndl.
wb. 2, 1951 f.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 197; Suppl.
58; Vries, Ndls. et. wb. 206; Et. wb. Ndl. F-Ka 274;
Holthausen, Ae. et. Wb. 132; Bosworth-Toller, AS Dict.
479; Suppl. 473; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 136 f.;
Lehmann, Gothic Et. Dict. F-9. — Gallée [1903] 1977:
104; F. P. Knapp, PBB 96 (Tübingen, 1974), 219; Suo-
lahti [1909] 2000: 364 ff.; Wissmann 1938: 74 f.
Die germ. Sippe gehört zu der Verbalwz. vor-
urgerm. *ĝheh₁i̯-/*ĝhih₁- ‚den Mund aufsper-
ren, gähnen, klaffen‘. Die Vorform *ĝheh₁i-ró-
mit intervokalischem Schwund des Laryngals
(vgl. akk.sg. ved. rayím ‚Reichtum‘ < *rai- <
*reh₁í-; Cowgill-Mayrhofer 1986: 124) setzt
die Hochstufe der Verbalwurzel vorurgerm.
*ĝheh₁i̯-/*ĝhih₁- ‚den Mund aufsperren, gäh-
nen, klaffen‘ fort. Weniger wahrscheinlich ist
die Annahme einer ursprünglichen Tiefstufe,
da nach der Lex Dybo in vorurgerm. *ĝhih₁-
ró- > *ĝhi-h₁ró- > *ĝhi-ró- Kurzvokal zu er-
warten ist (nach Dybo erfolgte im Kelt.,
Germ. und [modifiziert] im It. Kürzung eines
aus Kurzvokal und Laryngal entstandenen
Langvokals vor einem Resonanten, wenn der
Langvokal nach grundsprachlicher Akzen-
tuierung in vortoniger Silbe stand; vgl. ahd.
wer [s. d.], got. wair ‚Mann‘ < urgerm.
*u̯ira-, lat. vir, air. fer ‚Mann‘ < vorurgerm.,
vorurit., vorurkelt. *u̯i-Hró- gegenüber ai.
vīrá- ‚Mann, Held‘ < uridg. *u̯iH-ró-; vgl.
Peters 1980: 173 Anm. 125 f.; Lühr 2000:
100; Schaffner 2001: 331 Anm. 20; Neri
2003: 264 und Anm. 870).
Unbegründete Zweifel an der Verbindung von ahd. gîr
‚Geier‘ mit den Fortsetzern von urgerm. *īra- ‚gierig‘
bei D. A. Ringe, Sprache 30 (1984), 146 (isolated word
with no obvious cognates, word of obscure origin).
Walde-Pokorny 1, 549; Pokorny 419 f.; LIV² 173. —
Neuß 1973: 89 f.