gazzaAWB f. n-St., in Gl., bei N und WH
(seit dem 10. Jh.): ‚Gasse, Quartier, Stadt-
viertel; andromena, platea, vicus‘. — Mhd.
gazze sw. f. ‚Gasse‘, nhd. Gasse f. ‚von Häu-
sern eingefaßte, enge Straße, schmaler
Durchgang‘. Das Wort wird auch in Redens-
arten verwendet wie gassatim gehen ‚lär-
mend durch die Gassen ziehen‘ (ältere Stu-
dentensprache; den Typ lat. statim ‚sofort‘
parodierende Adverbialbildung), Gassen
hauen ‚beim Gehen schnell und derb auftre-
ten‘ (davon abgeleitet Gassenhauer ‚auf
Straßen gesungenes, bekanntes, triviales
Lied‘, urspr. ‚Nachtschwärmer‘) und Gassi
gehen ‚mit seinem Hund einen Straßenbum-
mel machen, um ihm den nötigen Auslauf zu
geben sowie Gelegenheit, seine Notdurft zu
verrichten‘ (vgl. Röhrich 2004: 1, 509 f.).
Ahd. Wb. 4, 130 f.; Splett, Ahd. Wb. 1, 1217; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 360; Schützeichel⁶ 130; Starck-Wells
193; Schützeichel, Glossenwortschatz 3, 410 f.; Graff 4,
105; Lexer 1, 745; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 40 (andro-
mena). 494 (platea). 708 (vicus); Dt. Wb. 4, 1436 ff.;
Kluge²¹ 234; Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et. Wb.² 400. —
Grimm [1819 ff.] 1999: 2, 23.
In den anderen germ. Sprachen entsprechen:
aisl., nisl. gata f. (aisl. gata beruht auf Neue-
rung; wegen des w-Umlauts [s. u.] wäre
*gǫtua zu erwarten; nach dem Verhältnis sg.
saga : pl. sǫgur wurde zum Pl. gǫtur ein
neuer Sg. gata geschaffen [vgl. Noreen
(1904) 1978: § 84]), fär. gata, gøta, nnorw.
gata, gota, ndän. gade, nschwed. gate ‚Pfad,
Gasse‘; got. gatwo* f. ‚Weg zwischen zwei
Zäunen, Pfad, Gasse‘ (nur akk.pl. gatwons
[Lk. 14,21]): < urgerm. *atu̯ōn-. Dagegen
sind die übrigen germ. Verwandten Entleh-
nungen: Aus dem Dt. stammen mndd. gasse,
gatze ‚Gasse, Stadtviertel‘, ostmndl. gas(se)
‚Straße‘; me. gte ‚Gasse, Straße‘, ne. gate
‚Straße‘ ist dagegen aus dem Aisl. entlehnt.
Aus dem Germ. wurde das Wort auch in das Balt. ent-
lehnt, und zwar zweimal: Einmal in vorhistorischer
Zeit als lit. gãtvė ‚Straße, Gasse, Viehtrift‘, lett. gatva,
gat(u)ve ‚zu beiden Seiten eingezäunter Weg, Vieh-
weg, Gasse, Allee, Durchgang‘ (verfehlt R. Lans-
zweert, FS Knobloch 1985: 224 ff., da er die balt. For-
men zu ahd. pfad [s. d.] stellt und den Gleichklang „als
schlichte Kuriosität“ abtut), später aus dem Mndd. als
lett. (Westlivland) gate ‚Weg zwischen zwei Zäunen‘.
Urgerm. *atu̯ōn- stellt somit eine nord-
ostgerm.-ahd. Isoglosse dar. Problematisch
ist die weitere Anbindung innerhalb des
Germ. Noch am wahrscheinlichsten ist die
Zusammenstellung mit urgerm. *ata- n.
‚Loch, Öffnung‘, ein lediglich im Nord-
Westgerm. fortgesetztes Wort: as., mndd. gat
‚Loch, Öffnung, Durchbruch‘; mndl., nndl.
gat ‚Loch, Durchgang, Tür‘; afries. jet,
nfries. gat ‚Loch, Öffnung, Durchgang, Höh-
le‘; ae. geat (hieraus entlehnt ir. gead ‚der
Hintere‘; weniger wahrscheinlich Pedersen
[1909—13] 1976: 1, 63. 160: ir. gead sei ein
Erbwort), me., ne. gate ‚Tor, Tür, Öffnung‘;
aisl., nisl., fär., nnorw. gat ‚Loch, Höhle‘.
Als vermittelnde Bedeutung zwischen ‚Gas-
se‘ und ‚Loch‘ müßte dann eine Bedeutung
wie ‚Schneise, Höhlung‘ angenommen wer-
den. Zur Erklärung des morphologischen
Verhältnisses von urgerm. *ata- und *a-
tu̯ōn- wurden zwei Möglichkeiten in Be-
tracht gezogen: Nach der ersten sind beide
Wörter Ableitungen eines im Germ. nicht
mehr bezeugten Verbs urgerm. *ete/a-
‚Öffnung, Höhlung haben‘: *ata- ist dann
ein Verbalsubstantiv mit dem Suffix urgerm.
*-a-, während *atu̯ōn- als substantiviertes
Adjektiv mit dem Suffix *-u̯ō- abgeleitet ist
(vgl. zu diesen Bildungen Krahe-Meid 1969:
3, § 77, 4; zu adj. a-Ableitungen, die neben
solchen auf *-u̯a- stehen, vgl. urgerm. *ula-
‚gelb‘ [> aisl. gulr ‚gelb‘] neben *elu̯a-
‚gelb‘ [→ gelo]). Die zweite Erklärung geht
von einem Nebeneinander von urgerm.
*ata- und einem nicht weiter bezeugten u-
St. *atu- aus, zu dem eine Ableitung mit
urgerm. *-ōn- gebildet wurde (so Grienber-
ger 1900: 94). Da es jedoch, anders als etwa
bei ahd. smero ‚Fett, Schmier‘ (s. d.), in den
idg. Sprachen keinen Hinweis auf einen u-St.
gibt, scheint diese Möglichkeit weniger
wahrscheinlich.
Zur Bedeutung vgl. aruss. ulica ‚Marktplatz,
Straße, Reihe‘, russ. úlica ‚Straße, Gasse‘,
das zu gr. αὐλός ‚längliche Höhlung, Flöte‘,
westfäl. ōl, aul ‚Schlucht, Mulde‘ und arm.
uli ‚Weg, Reise‘ gehört.
Eine Analyse in *a-tu̯ō- (so Bopp 1868—71: 3, 226 f.;
Meyer 1869: 16 f. 416; O. Bremer, PBB 11 [1886],
272; L. Meyer, ZVSp 8 [1895], 285) mit dem Suffix
uridg. *-tu̯o- scheidet aus, da in dem Fall die germ.
Lautverschiebung hätte eingetreten sein müssen (vgl.
bereits C. Lottner, ZVSp 11 [1862], 187).
Fick 3 (Germ.)⁴ 123; Holthausen, As. Wb. 25; Sehrt,
Wb. z. Hel.² 168; Berr, Et. Gl. to Hel. 149; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 25; Schiller-Lübben,
Mndd. Wb. 2, 17; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 2, 926 f.;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 176; Vries, Ndls. et. wb.
185; Et. wb. Ndl. F-Ka 176; Holthausen, Afries. Wb.²
53; Richthofen, Afries. Wb. 847; Fryske wb. 7, 71 ff.;
Doornkaat Koolman, Wb. d. ostfries. Spr. 1, 595 f.;
Dijkstra, Friesch Wb. 1, 439 f.; Holthausen, Ae. et. Wb.
126; Bosworth-Toller, AS Dict. 369; ME Dict. s. v.;
OED² s. v.; Vries, Anord. et. Wb.² 157. 158; Bjorvand,
Våre arveord 286 f.; Jóhannesson, Isl. et. Wb. 328;
Fritzner, Ordb. o. d. g. norske sprog 1, 564 f.; Holthau-
sen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 81; Falk-Torp, Norw.-dän.
et. Wb. 1, 294; Nielsen, Dansk et. ordb. 152; Ordb. o.
d. danske sprog 6, 585 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 176;
Hellquist, Svensk et. ordb.³ 272 f.; Svenska akad. ordb.
s. v.; Feist, Vgl. Wb. d. got. Spr. 205 f.; Lehmann, Gothic
Et. Dict. G-69. — Fraenkel, Lit. et. Wb. 139; Mühlen-
bach-Endzelin, Lett.-dt. Wb. 1, 609. — Senn 1925: 49; A.
Senn, JEGP 32 (1933), 517.
Gehören also urgerm. *ata- und *atu̯ōn-
tatsächlich zusammen, können beide auf
vorurgerm. *ĝhod-o- zurückgeführt werden.
Hiermit zu vergleichen sind dann av. (dual)
zadaŋha ‚Steiß‘ (vgl. auch das Kompositum
apa-zadah- ‚den Steiß abweghaltend [nach
oben?]‘) und arm. jet ‚Schwanz‘ (< *ĝhedos;
arm. jet ist ein o-St., doch weist der Voka-
lismus auf einen alten s-St.). Diese Wörter
sind Ableitungen der Verbalwurzel uridg.
*ĝhed-, die in gr. χέζω ‚ich scheiße‘, alb. dhjes
‚ich scheiße‘ (< *ĝhed-i̯é/ó-) und alb. n-dot
‚beschmutzt, verdreckt‘ (< *ĝhe-ĝhd-) fortge-
setzt ist. Als Bedeutung der Verbalwurzel
uridg. *ĝhed- wird üblicherweise ‚scheißen‘
angegeben. In Anbetracht der germ. Belege
ahd. gazza ‚Gasse‘, as. gat ‚Loch‘ usw. ist
sie jedoch mit Persson 1912: 1, 599 besser als
‚Öffnung haben‘ anzusetzen, welche sich zu
‚scheißen‘ entwickelt hat.
Walde-Pokorny 1, 542 ff. 571 f.; Pokorny 423; LIV²
172; Mayrhofer, K. et. Wb. d. Aind. 3, 573 f.; Bartholo-
mae, Airan. Wb.² 1657; Frisk, Gr. et. Wb. 2, 1078 f.;
Chantraine, Dict. ét. gr. 1249; Demiraj, Alb. Et. 161 f.;
Orel, Alb. et. dict. 83. — O. Wiedemann, BB 30 (1906),
214 f.; Olsen 1999: 47.