hôrenAWB sw. v. I, seit dem letzten Viertel
des 8. Jh.s, in Gl., B, GB, T, OT, MF, M, O,
G, Ph, N, Npg, WH: ‚hören (auf), vernehmen,
anhören, zuhören, erhören, Folge leisten, ge-
horchen, (mit etwas) aufhören, gehören zu; at-
tendere, audire, auscultare, exaudire, insona-
re (auribus), intendere, os movere, oboedire‘,
zi eineru hant hôren ‚zusammengehören‘
〈Var.: hoorr-, horr-, hoor-, hor-, ohr-〉. —
Mhd. hœren, md. hôren ‚hören, anhören, auf-
hören, gehören zu‘, nhd. hören ‚etwas aku-
stisch wahrnehmen, vernehmen, etwas auf-
nehmen und geistig verarbeiten, gehorchen‘,
in Wendungen wie das läßt sich hören ‚das ist
akzeptabel‘, jemandem vergeht Hören und Se-
hen ‚jemand ist sehr betroffen, jemand weiß
nicht mehr, was mit ihm geschieht‘, wer nicht
hören will, muß fühlen ‚wer nicht gehorcht,
wird bestraft‘, der Zwischenruf hört, hört! als
Reaktion auf einen erstaunlichen Sachverhalt.
Ahd. Wb. 4, 1240 ff.; Splett, Ahd. Wb. 1, 400; Köbler,
Wb. d. ahd. Spr. 561; Schützeichel⁶ 166; Starck-Wells
284. 822; Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 388; See-
bold, ChWdW8 164; Graff 4, 1001 ff.; Lexer 1, 1339 f.;
3, Nachträge 246; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 63 (audire).
344 ([alci auribus] insonare). 440 (oboedire). 633 (sen-
sibus subiectum); Dt. Wb. 10, 1806 ff.; Kluge²¹ 316;
Kluge²⁴ s. v.; Pfeifer, Et. Wb.² 556. — Riecke 1996: 387.
— Röhrich 2004: 2, 737 f.
Das Verb ist gemeingermanisch. Es entspre-
chen: as. hōrian sw. v. I ‚hören, anhören, auf
etwas hören, hinhören, gehorchen, folgen‘,
mndd. hȫren ‚etwas akustisch wahrnehmen,
hinhören, zuhören, lauschen, vernehmen, zur
Kenntnis nehmen, gehorchen, gehören zu‘, in
Wendungen wie int hūs hȫren ‚genau hinhö-
ren‘, tō hūs hȫren ‚zu Hause sein‘ (hȫren in
der Bedeutung ‚gehören, zugehören‘); andfrk.
ge-hōron sw. v. ‚hören, erhören‘ (das Simplex
ist nicht überliefert), mndl. hōren sw. v. ‚hö-
ren, vernehmen, gehorchen, gehören zu‘, nndl.
horen sw. v. ‚hören‘; afries. hēra sw. v. ‚hören,
gehören‘, nfries. hearre ‚hören, wahrnehmen,
vernehmen, informieren, begreifen, anhören,
gehören zu‘; ae. hȳran (angl. hēran, west-
sächs. hīeran) ‚hören, zuhören, folgen, gehor-
chen, gewähren, gehören zu‘, me. hēren (hei-
ren, hearen, heoren) ‚dss.‘, ne. hear ‚hören,
zuhören‘, in Wendungen wie not to hear day
nor door ‚überhaupt nichts deutlich hören‘,
imper. hear! hear! (älter hear him! hear him!)
wie nhd. hört, hört! (s. o.); aisl., nisl. heyra
sw. v. ‚hören‘, fär. hoyra, nnorw. høyra, ndän.
høre, aschwed., nschwed. höra; got. hausjan
sw. v. I ‚hören; ἀκούειν‘ (mit Beseitigung des
grammatischen Wechsels, dazu s. u.; daneben
seltenes hausjon sw. v. II < *χau̯zōi̯e/a-): < ur-
germ. *χau̯zii̯e/a- ‚hören‘.
Die Aufhebung des grammatischen Wechsels in got.
hausjan ist bislang nicht zufriedenstellend erklärt. Nach
R. Normier, ZVSp 91 (1977), 191 Anm. 48 ist urgerm.
*z nach *au̯ lautgesetzlich desonorisiert (vgl. noch auso
‚Ohr‘ < *au̯zan-, raus ‚Rohr‘ [dat.sg. rausa] < *rau̯zan-,
af-drausjan und ga-drausjan ‚herabstürzen‘ <
*đrau̯zii̯e/a-, kausjan ‚kosten‘ < *kau̯zii̯e/a-). Phone-
tisch ist eine Desonorisierung in dieser lautlichen Um-
gebung schwer zu begründen, zumal z nach *eu̯-
Diphthong erhalten bleibt: dat.pl. diuzam ‚den Tieren‘ <
*đeu̯za-. Hinzu kommt, daß auch in anderer lautlicher
Umgebung der grammatische Wechsel beseitigt ist; vgl.
z. B. got. nasjan : ahd. ner(r)en ‚retten‘ < *nazi̯e/a-, got.
ga-nohjan : ahd. gi-nuogen ‚Genüge leisten‘ < *a-
nōii̯e/a-. Naheliegender ist es daher, mit Schaffner
2001: 251. 583 f. die Ursache für diese lautliche Er-
scheinung in der Tendenz des Gotischen zu stimmlosen
Vernerschen Varianten zu sehen (vgl. die got. Auslaut-
verhärtung, die Aufhebung des grammatischen Wech-
sels beim st. Verb). In hausjan könnte s (anstelle von z)
in Anlehnung an andere Kausativa wie kausjan,
-drausjan, nasjan, slaupjan ‚abstreifen, ablegen‘ einge-
treten sein, die die stimmlose Variante nach dem Vorbild
der st. Verben kiusan ‚prüfen‘, driusan ‚fallen‘, ga-
nisan ‚genesen‘, sliupan ‚schleichen‘ verallgemeinert
haben.
Fick 3 (Germ.)⁴ 66; Holthausen, As. Wb. 36; Sehrt, Wb.
z. Hel.² 268 f.; Wadstein, Kl. as. Spr.denkm. 193; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. 2, 1, 355 f.; Schiller-
Lübben, Mndd. Wb. 2, 300 f.; Quak, Wortkonkordanz zu
d. am.- u. andfrk. Ps. u. Gl. 65. 66; Quak, Die am.- u.
andfrk. Ps. u. Gl. 200; Verwijs-Verdam, Mndl. wb. 3,
592 ff.; Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 261; Suppl. 72;
Vries, Ndls. et. wb. 268; Et. wb. Ndl. F-Ka 461; Holt-
hausen, Afries. Wb.² 42; Richthofen, Afries. Wb. 808;
Fryske wb. 8, 218 ff.; Doornkaat Koolman, Wb. d. ost-
fries. Spr. 2, 105 f.; Dijkstra, Friesch Wb. 1, 503 f.; Holt-
hausen, Ae. et. Wb. 159; Bosworth-Toller, AS Dict.
582 f.; Suppl. 586; ME Dict. s. v.; OED² s. v.; Vries,
Anord. et. Wb.² 226; Bjorvand, Våre arveord 418 f.;
Jóhannesson, Isl. et. Wb. 200 f.; Fritzner, Ordb. o. d. g.
norske sprog 1, 812; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awest-
nord. 114; Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 1, 454; Niel-
sen, Dansk et. ordb. 200; Ordb. o. d. danske sprog 8,
1262 ff.; Torp, Nynorsk et. ordb. 240; Hellquist, Svensk
et. ordb.³ 395 f.; Svenska akad. ordb. s. v.; Feist, Vgl.
Wb. d. got. Spr. 251; Lehmann, Gothic Et. Dict. H-52. —
Kieckers 1928: 226. 227; Rooth 1974: 127—131; S. Su-
zuki, IF 99 (1994), 219 Anm. 4. 235 Anm. 20; Braune-
Heidermanns 2004: § 187 Anm. 3; Casaretto 2004: 85.
228 Anm. 762.
Von kleineren Modifikationen abgesehen, exi-
stieren für die Etymologie von ahd. hôren
usw. vier Vorschläge, von denen der erste die
größte Wahrscheinlichkeit besitzt:
1. Urgerm. *χau̯zii̯e/a- setzt vorurgerm.
*(h₂)kou̯s-i̯é/ó- fort, das in gr. ἀκούω ‚höre,
gehorche, stehe im Rufe‘ < vorurgr. *h₂kou̯s-
i̯é/ó- eine genaue Entsprechung hat. Hierher
gehört auch gr. Hesych ἀκεύει ‚beachtet‘ <
vorurgr. *h₂keu̯s-, das auf einen alten s-Aorist
uridg. *h₂keu̯s-s- weist (s. M. Peters, Sprache
32 [1986], 368 Anm. 13; anders J. H. Jasanoff,
in Neu-Meid 1979: 84 f., der anstelle einer Al-
ternation o-stufiges Präsens : e-stufiger s-
Aorist von einem e/o-ablautenden athemati-
schen Präsens *h₂kou̯s-/*h₂keu̯s- ausgeht).
Aus dem Kelt. stellt J. Corthals (HS 103
[1990], 269—271) das air. Deponens
*auchaidir ‚hören‘ (2.sg.imp. auch[a]ide) <
kelt. *akou̯sī- hierher, doch ist uridg. *h₂k- im
Kelt. nicht als *ak- vertreten.
Zugrunde liegt wohl ein primäres o-stufiges
i̯e/o-Präsens (vom Typ uridg. *kop-i̯e/o- ‚hau-
en‘) zu uridg. *h₂keu̯s- ‚aufmerken‘ (G. Klin-
genschmitt mündlich bei Lühr 2000: 24. 101;
Peters, a. a. O. erwägt für gr. ἀκούω und seine
germ. Verwandten dagegen Reflexe eines
uridg. Intensivums *h₂kōu̯s-ii̯e/o-; doch müßte
die urspr. Reduplikation des Intensivums im
Gr. Spuren hinterlassen haben).
2. Urgerm. *χau̯zii̯e/a- usw. wird häufig als s-
Erweiterung zu einer Wz. uridg. *(s)keu̯h₁-
‚wahrnehmen‘ gestellt, die in ai. ā-kuváte ‚be-
absichtigt‘ (< *-kuh₁etoi̯), -kūta- n. ‚Absicht‘
(< *-kuh₁to-), gr. κοέω ‚bemerke, vernehme,
höre‘ (< Iterativ *[s]kou̯h₁-éi̯e/o-), lat. caveo
‚sehe mich vor‘ (*kou̯h₁-éi̯e/o- mit Wandel
von *ou̯ > *au̯ gemäß der Thurneysen-
Havetschen Regel; vgl. lat. cavus ‚gewölbt,
hohl‘ < *kou̯[h]o-; Meiser 1998: § 61, 7) und
mit s-mobile in ahd. skouwôn sw. v. II ‚schau-
en‘ < urgerm. *skau̯u̯ōi̯e/a- < *skou̯h₁ah₂i̯e/o-
vorliegt. Doch müßte dann die schlüssige
Verbindung mit gr. ἀκούω aufgegeben wer-
den.
3. Rückführung von gr. ἀκούω und seiner
germ. Verwandten auf uridg. *h₂k̂-h₂ou̯s-i̯é/ó-
‚sich verhalten wie einer, der ein scharfes Ohr
hat‘, ein Denominativ mit dem Suffix *-i̯e/o-
von einem Syntagma *h₂k̂- ‚scharf‘ (z. B. fort-
gesetzt in lat. acus, gen.sg. -ūs ‚Nadel‘) und
*h₂ou̯s- ‚Ohr‘ (→ ôra) ‚scharfe Ohren ha-
bend‘ (vgl. Steinbauer 1989: 86; ähnlich be-
reits P. Kretschmer, ZVSp 33 [1895], 565; K.
F. Johansson, IF 3 [1894], 199). Doch würde
man dann die Bedeutung ‚lauschen, heimlich
lauschen‘ erwarten.
4. Unwahrscheinlich ist C. H. Borgstrøms ad-
hoc-Erklärung des gr. vokalischen Anlauts
durch eine Verschiebung der Wortgrenze in
einem angenommenen Syntagma *ku̯i̯áh₂
h₃ou̯si̯esi ‚Was hörst du‘ > *ku̯i̯ ákou̯si̯esi mit
Sandhi-Entwicklung *h₂ *h₃ > *k (bei Linde-
man 1997: 153).
Walde-Pokorny 1, 369; Pokorny 587; LIV² 561; Mayr-
hofer, K. et. Wb. d. Aind. 1, 187 f.; ders., Et. Wb. d. Alt-
indoar. 1, 328; Frisk, Gr. et. Wb. 1, 57 f. 890 f.; Chan-
traine, Dict. ét. gr. 50 f. 551; Walde-Hofmann, Lat. et.
Wb. 1, 186 f.; Ernout-Meillet, Dict. ét. lat.⁴ 107; Hessens
Ir. Lex. 1, 71; Vendryes, Lex. ét. de l’irl. anc. A-103;
Dict. of Irish A-479. — W. Stokes, ZVSp 38 (1905), 460;
E. Polomé, in Winter 1960: 40; Beekes 1969: 50; Wer-
ba 1997: 276; Lühr 2000: 43; Mayrhofer 2005: 47.