grazlîcho adv., nur Gl. 1,161,14 (zwi-
schen 820 und 830, bair.). 243,32 (Cbm. Cat.
14/3, nur in Sanftls Abschrift [1809] erhal-
ten; s. Bergmann-Stricker, Katalog Nr. 710):
‚scharfsinnig, gründlich; subtiliter‘. Die auf-
fällige Komparativform krazlihor 243,32
(vgl. Splett 1979: 133) ist vielleicht ver-
schrieben (entweder vom Schreiber oder von
Sanftl) mit -r unter dem Einfluß von lat. sub-
tiliter. — grazzo adv., nur bei O: ‚eindeutig,
strikt, ohne Umschweif‘ (vgl. mhd. graz,
nhd. [veraltet und mdartl.] graß adj. ‚wütend,
zornig‘; seit dem 16. Jh. auch ‚Schrecken er-
regend‘ [s. u.], mhd. graz, grâz [?] st. m.
‚Wut, Übermut‘).
Diese Wörter gehören wahrscheinlich zur
selben westgerm. Wz. *grat- ‚scharf, hervor-
stechend‘ wie mhd. grezzenach ‚Reisig‘
(s. d.). Zu *grat- mit j-Erweiterung gehören
mndd. gretten ‚zum Zorn reizen, ärgern‘,
intr. ‚gereizt, zornig sein‘, grettich adj.
‚leicht aufgebracht, zornig‘ (→ nhd. mdartl.
[norddt.] gretzen, grätzen, gretzig, grätzig);
frühnndl. (Kiliaan und mdartl.) greten ‚zum
Zorn reizen, plagen‘, nndl. gretig ‚begierig‘
(zur Bed. vgl. nhd. umgangssprachlich
scharf ‚geil‘).
Nhd. gräßlich ist nicht unmittelbar mit ahd.
grazlîcho verwandt, sondern ist wohl eine
Entlehnung aus mndd. grēselik ‚Schauder,
Grausen erregend‘ (→ grîsanlîh), die mit
hochdt. graß fälschlich verbunden wurde
und auch die Bedeutung von graß beeinflußt
hat, das seit dem 16. Jh. und bes. im 18. und
frühen 19. Jh. ‚Schrecken erregend‘ bedeute-
te und mit dem neuen Wort gräßlich konkur-
rierte (vgl. Dt. Wb. 8, 2014 ff.; Kluge²⁴ 370).
Verwandtschaft mit got. gretan ‚weinen‘,
mhd. grâzen ‚(auf-)schreien, wüten‘ (Kluge²¹
268 s. v. gräßlich; Franck, Et. wb. d. ndl.
taal² 214 s. v. gretig) ist sehr unwahrschein-
lich, aber eine gegenseitige Beeinflussung
von mhd. graz und grâzen läßt sich vermu-
ten. Also könnte mhd. græzlich ‚zornig, er-
zürnt lautend‘, das bestimmt zu grâzen ge-
hört (langes ǣ) als eine Ableitung von graz
verstanden werden; auch die Vokallänge der
Nebenform grâz st. m. bei Lexer kann aus
grâzen, græzlich übertragen sein — wenn der
Vokal tatsächlich lang ist, was aber sehr un-
sicher ist; vgl. Dt. Wb. 8, 2014.
Ahd. Wb. 4, 409; Splett, Ahd. Wb. 1, 322; Köbler, Wb.
d. ahd. Spr. 490; Schützeichel⁶ 139; Starck-Wells
238; Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 37; Graff 4,
335; Lexer 1, 1075 f.; Götz, Lat.-ahd.-nhd. Wb. 637
(subtiliter); Dt. Wb. 8, 204 (gretzen); Kluge²⁴ 953
(vergrätzen); Pfeifer, Et. Wb.² 470 f. — Fischer,
Schwäb. Wb. 3, 800; Martin-Lienhart, Wb. d. els.
Mdaa. 1, 281 (gräss); Follmann, Wb. d. dt.-lothr.
Mdaa. 214 (gräss); Frischbier, Preuß. Wb. 1, 252
(gretzen, grätzen, gretzig, grätzig); Wossidlo-
Teuchert, Meckl. Wb. 3, 269 (grätzen, grätzig); Mitz-
ka, Schles. Wb. 1, 448 (gratzen, grätzen, gratzig). —
Fick 3 (Germ.)⁴ 139; Heidermanns, Et. Wb. d. germ.
Primäradj. 255; Lasch-Borchling, Mndd. Handwb. 2,
1, 159; Schiller-Lübben, Mndd. Wb. 2, 145; 6, 144;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 214; Suppl. 61; Vries,
Ndls. et. wb. 219. — Lühr 1988: 116. — Walde-Pokorny
1, 606; Pokorny 440.