grâtagAWB adj., nur in Gl. des 8.—9. Jh.s:
‚begierig; (in-)hians‘. — Nhd. (veraltet) grätig
‚geizig, gierig‘ (s. u.).
Ahd. Wb. 4, 408; Splett, Ahd. Wb. 1, 322; Köbler, Wb.
d. ahd. Spr. 489; Schützeichel⁶ 139; Starck-Wells
238; Schützeichel, Glossenwortschatz 4, 36; Dt. Wb.
8, 2056 f.
Germ. Entsprechungen sind: as. grādag
‚gierig‘; mndl. gradich, gredich, nndl. graag
‚gierig, hungrig‘; ae. grǣdig ‚dss.‘ (daneben
grǣd m. ‚Gier‘), me. gredi(g), ne. greedy
(auch greed ‚[Hab-]Gier‘); aisl. gráðugr
‚gierig, hungrig‘ (gráðr m. ‚Hunger, Gier‘),
nnorw. graadug, nschwed. grådig, ndän.
graadig; got. gredags ‚hungrig; πεινῶν‘
(gredus m. ‚Hunger; λιμός‘).
Fick 3 (Germ.)⁴ 139 f.; Holthausen, As. Wb. 28; Ver-
dam [1911] 2002: 228; Franck, Et. Wb. d. ndl. taal²
210; Suppl. 61; Vries, Ndls. et. wb. 216; Et. wb. Ndl.
F-Ka 315 f.; Holthausen, Ae. et. Wb. 135; Bosworth-
Toller, AS Dict. 486; Suppl. 483; ME Dict. s. v.; OED²
806 f.; Vries, Anord. et. Wb.² 183 f.; Jóhannesson, Isl.
et. Wb. 357; Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 93;
Falk-Torp, Norw.-dän. et. Wb. 339; Torp, Nynorsk et.
ordb. 178 f.; Hellquist, Svensk et. ordb.³ 305; Feist,
Vgl. Wb. d. got. Spr. 220; Lehmann, Gothic Et. Dict.
G-103.
Die aus diesen Belegen zu erschließenden
urgerm. Formen *græđu-/-a- (Subst., -îg/
-ag-Adj.; → -îg) haben keine sicheren außer-
germ. Verwandten. Wahrscheinlich liegt eine
Erweiterung *ĝhreh₁- der idg. Wz. *ĝher(h₁)-
‚begehren, gern haben‘ zugrunde (Pokorny
440; → ger). Nach H. Hirt, PBB 23 (1898),
291 ist germ. *græđu- ein Verbalabstraktum
mit idg. *tu-Suffix (vgl. Wilmanns [1906—
30] 1967: 2 § 254 f. und → fluot), aber wenn
lit. gardùs ‚wohlschmeckend, schmackhaft‘,
lett. gards ‚dss.‘ verwandt sind (vgl. Fraen-
kel, Lit. et. Wb. 136; Mühlenbach-Endzelin,
Lett.-dt. Wb. 1, 602), deuten sie eher auf eine
idg. Wurzelvariante *gher(h₁)dh- : *ghreh₁dh-.
Der verlockende Vergleich mit ai. gdhyati ‚begehrt,
verlangt‘, gardha- m. ‚Begierde‘, jav. gǝrǝδa- ‚gierig,
hastig‘ (z. B. Vries, Anord. et. Wb.² a. a. O., Feist,
a. a. O., Lehmann, a. a. O. u. a.) muß aufgegeben wer-
den, weil diese Wörter eher mit aksl. gladъ ‚Begier-
de‘, poln. głód ‚Hunger‘, russ. gólod ‚dss.‘, serb.-ksl.
žlъdĕti ‚begehren‘ zu verknüpfen und auf eine idg.
Wz. *gheldh- (Pokorny 434; nach Mayrhofer, Et. wb.
d. Altindoar. 1, 474 *gu̯eldh-) zurückzuführen sind;
vgl. Mayrhofer, K. et. Wb. d. Aind. 1, 329. 343; Sad-
nik-Aitzetmüller, Handwb. z. d. aksl. Texten 29. 235
(Nr. 215); Vasmer, Russ. et. Wb. 1, 287; Sławski
1952 ff.: 1, 294. Ob schon im Uridg. eine Kreuzung
von r- und l-Wurzeln stattgefunden hat, bleibt eine
offene Frage; vgl. Brugmann [1902—04] 1970: § 174
und idg. *gu̯el- : *gu̯er- ‚verschlingen‘ (Pokorny 365.
474).
Nicht besser Heidermanns, Et. wb. d. germ. Primär-
adj. 252 f.: urspr. ‚triebhaft‘, zu grât (s. d.) und zur
idg. Wz. *ghrē- : *ghrō- ‚hervorstechen, treiben, wach-
sen‘. Diese Erklärung gilt für mndl. gretig ‚begierig‘
(Kiliaan auch ‚irritieren‘; → grazlîcho), aber kaum für
diese Sippe, deren älteste Bed. (got.) ‚Hunger, hung-
rig‘ war und auch in den anderen älteren germ. Spra-
chen fast immer ‚hungrig, gefräßig oder gierig‘ bedeu-
tete. Der Begriff ‚sinnliche Begierden‘ kommt nur sel-
ten (in späteren Quellen) vor. Eine spätere Kreuzung
von mehreren Sippen ist aber möglich: vgl. mndl. gre-
tig (oben); aisl. gríd ‚Heftigkeit‘, mhd. grîtec
‚begierig‘ (→ bigrîtan; vgl. auch els. gritig ‚avidus‘,
westfäl. griddig ‚gierig, habsüchtig‘); nhd. (um-
gangsspr.) und mdartl. (schwäb. grätig ‚unwirsch,
leicht reizbar‘ (< ‚scharf, spitz‘, zu grât; schweiz.
‚halsstarrig‘) neben nhd. (veraltet) grätig ‚(be-)gierig‘
(s. o.), rhein. gradig ‚dss.‘.
Möglicherweise gehören aisl. graðr ‚unverschnitten,
zeugungsfähig‘ (norw. grad, gra auch ‚brünstig‘), aisl.
graðungr ‚Stier‘ (neben griðungr!) nicht zur selben
Sippe wie grâtag, sondern (wie Heidermanns an-
nimmt) zur Sippe von grât und grazlîcho (s.dd.).
Dt. Wb. 9, 6 (greitig); Fischer, Schwäb. Wb. 3, 803;
Schweiz. Id. 2, 821; Martin-Lienhart, Wb. d. els.
Mdaa. 1, 286; Woeste, Wb. d. westf. Mda. 85; Müller,
Rhein. Wb. 2, 1341 f.; Vries, Anord. et. Wb.² 183. 184.
188.