buohAWB st.f.n.m. (s. u.) ‚Buch, Schriftstück, li-
ber, litterae, codex, volumen‘, seit dem 8. Jh.
(einmal ‚Buchstabe‘, nach Ahd. Wb. I, 1499,
aber s. u.) 〈Var.: p-; -ua-, -oa-, -o(o)-, -u-;
-ch, -hh-, -hc〉.
Im Sg. ist buoh gewöhnlich n. a-St., sehr selten m., bei
Otfrid zweimal f. i-St. (gen. sg. buachi, wohl durch
den Reim veranlaßt); das Wort wird aber häufiger im
Pl. gebraucht (oft mit sing. Bed.), wobei es im 8. und
9. Jh. meistens als f. kons. Stamm, später auch als n. a-
Stamm dekliniert wird. Vgl. Braune, Ahd. Gr.¹⁴ § 242
und Anm. 2; Ahd. Wb. I, 1495.
Mhd. buoch st. n. (pl. buoch, später auch buo-
che, buocher, buecher; vgl. Paul, Mhd. Gr.²³
§ 180; nhd. Buch n. (pl. Bücher).
Ahd. Wb. I, 1494 ff.; Splett, Ahd. Wb. I, 116; Schütz-
eichel⁴ 83; Starck-Wells 84. 797; Graff III, 32 ff.;
Schade 90; Lexer I, 385 f.; Benecke I, 278; Diefen-
bach, Gl. lat.-germ. 130 (codex). 326 (liber). 628 (vo-
lumen); Dt. Wb. II, 466 ff.; Kluge²¹ 106; Kluge²²
110 f.; Pfeifer, Et. Wb. 225.
Entsprechende Wörter kommen in allen germ.
Sprachen vor: as. bōk f.n. ‚Buch, Schreibtafel‘
(häufig im Pl.), mndd. bōk, būk n. ‚Buch‘;
mndl. boec m.n. ‚Buch, Urkunde‘, nndl. boek n.;
afries. bōk f.n. ‚Buch‘; ae. bōc f. (pl. bēc) ‚Buch,
Urkunde‘, me. bōk, ne. book; aisl. bók f. (pl.
bœkr) ‚Buch; lat. Sprache; gestickte Bettzieche‘,
nnorw. nschwed. bok, ndän. bog; got. (mit ab-
weichender Dekl.) bōka f. ‚Buchstabe, γράμμα‘,
pl. bōkōs ‚Schrift, Buch, Urkunde, βίβλος, βι-
βλίον, γράμματα‘, frabauhta-bōka f. (kaum n.
pl., nach F. Kluge, ZfdA. 34 [1890], 210 ff.)
‚Verkaufsurkunde‘ (Urkunde von Arezzo),
wadja-bōkōs f.pl. ‚Schuldschein, χειρόγραφον‘.
Aisl. bók erscheint in der Bed. ‚gestickte Bettzieche‘
nur in Eddaliedern mit südgerm. Stoff und ist deshalb
wie das Verb (gull)bóka ‚(mit Gold) sticken‘ viell. aus
dem Nddt. entlehnt (vgl. as. *bōkon ‚sticken‘ und
Vries, Anord. et. Wb.² 48). Ob diese Wörter hierher
gehören (die Stickerei als eine Art Bilderhandschrift?)
oder anderen Ursprungs sind (z. B. zu ahd. bouchan,
as. bōkan ‚Zeichen‘), soll hier offenbleiben.
Fick III (Germ.)⁴ 271 f.; Holthausen, As. Wb. 8;
Sehrt, Wb. z. Hel.² 58; Berr, Et. Gl. to Hel. 60; Lasch-
Borchling, Mndd. Handwb. I, 1, 309; Schiller-Lüb-
ben, Mndd. Wb. I, 374; Verdam, Mndl. handwb. 106;
Franck, Et. wb. d. ndl. taal² 76 f.; Suppl. 22 f.; Vries,
Ndls. et. wb. 70; Holthausen, Afries. Wb.² 10; Richt-
hofen, Afries. Wb. 657; Holthausen, Ae. et. Wb. 28;
Bosworth-Toller, AS Dict. 113; Suppl. 99; ME Dict.
A—B, 1018 ff.; OED² II, 392 f.; Oxf. Dict. of Engl. Et.
107; Vries, Anord. et. Wb.² 48; Jóhannesson, Isl. et.
Wb. 597 f. 955; Heggstad, Gamalnorsk ordb. 65 f.;
Holthausen, Vgl. Wb. d. Awestnord. 21; Falk-Torp,
Norw.-dän. et. Wb. 89 f.; Torp, Nynorsk et. ordb. 32;
Hellquist, Svensk et. ordb.³ 88; Feist, Vgl. Wb. d. got.
Spr. 102 f. 160; Lehmann, Gothic Et. Dict. B-88.
Seit Grimm (vgl. Dt. Wb. II, 466 ff.) war man
sich meist darüber einig, daß das Wort mit ‚Bu-
che‘ zu verknüpfen sei, obgleich die genaue
Grundbedeutung umstritten war: ‚das aus Bu-
chenholz geschnitzte Stäbchen zum Einritzen
von Runen‘ (Dt. Wb.; Weigand, Dt. Wb.⁵ I,
299 u. a.) oder ‚Schreibtafeln aus Buchenholz‘
(Hoops Reallex. I, 338 ff.; IV² 34 ff.; Kluge²¹
106 u. a., vgl. noch D. Hüpper, Frühmittelalterl.
Stud. 20 [1986], 111). Neuerdings ist diese Ety-
mologie in Frage gestellt worden, bes. durch
E. Ebbinghaus (GL 22 [1982], 99 ff.; AJGLL 3
[1991], 51 ff.; er hält *ōk- für ein vorgerm.
Substratwort) und E. Seebold (Etymologie
[München, 1981] 290 ff.; Kluge²² 110 f.), aber
ihre Gegenargumente sind nicht überzeugend.
Seebold erhebt den Einwand (Kluge²² 110 f.),
daß germ. *ōk-s ursprl. ein Wurzelnomen,
während der Baumname, die angebliche Grund-
lage, ein f. ō-St. sei. Doch erstens war der
(west-)idg. Baumname kein ō- (d. h. ā-)St., son-
dern ist erst im Germ. in diese Klasse überge-
gangen; daß im Germ. ein gramm. Unterschied
zwischen der Bezeichnung des Baumes und der
des daraus verfertigten Gegenstandes gemacht
wurde, sollte grundsätzlich nicht überraschen
(pl. *ōkiz ‚Tafeln oder Stäbchen aus Buchen-
holz‘ : *ōkōz ‚Buchenbäume‘); man vgl. aind.
bhūrjá-, das als Mask. ‚Birke‘, als Neutrum
‚Birkenrinde zum Schreiben‘ bedeutet (Mayrho-
fer, K. et. Wb. d. Aind. II, 514). Im Germ. ist je-
doch mit folgender Entwicklung zu rechnen:
Wie die anord. Flexion der Wörter ‚Buche‘ und
‚Buch‘ als Wurzelnomina und möglicherweise
die ae. Mischflexion des Wortes ‚Buch‘ (gen. sg.
bēc, bōce) zeigen, konnte das analogisch nach
dem Wort ‚Eiche‘ (→ ei, heicha) konsonantisch
flektierende Wort ‚Buche‘ auch zur Bezeich-
nung des Schreibmaterials verwendet werden.
Da die vokalische Flexion des Wortes ‚Buche‘
daneben weiterbestand, fand eine formal die un-
terschiedlichen Bedeutungen ‚Buch‘ und ‚Buche‘
berücksichtigende Differenzierung in der Weise
statt, daß die konsonantische und damit mit ei-
ner anderen Baumbezeichnung übereinstim-
mende Flexion für das Wort ‚Buch‘ und die vo-
kalische Flexion für das Wort ‚Buche‘ weithin
durchdrang. Daß auch der ō-St. die Bedeutung
‚Buch‘ annehmen konnte, zeigt got. bōka — die
Goten lebten jahrhundertelang in buchenlosen
oder buchenarmen Gegenden und hatten so kei-
nen Grund, formal zwischen dem Wort ‚Buche‘
und dem Wort ‚Buch‘ zu unterscheiden; der
Baumname kommt im Got. nicht vor.
Zweitens sind auch die sachlichen Einwände
nicht stichhaltig. Ebbinghaus beschränkt sich zu
sehr auf die got. Verhältnisse, die das germ. Bild
entstellen. Nur im Got. findet man einen ziem-
lich regelmäßigen Gegensatz sg. bōka ‚Buchsta-
be‘: pl. bōkōs ‚Schriftstück‘ (mit einer wichtigen
Ausnahme aus der späten Urkunde von Arezzo:
frabauhta-bōka sg. ‚Verkaufsurkunde‘, s. o.).
Daraus schließt Ebbinghaus, daß man von ei-
nem ursprl. Wort mit der Bed. ‚Buchstabe‘ aus-
zugehen habe, das im Pl. ‚eine Gruppe von
Buchstaben‘, aber auch ‚ein Schriftstück‘ be-
zeichnen könne, wie bei gr. γράμμα, lat. littera.
Man könnte aber mit H. Rosenfeld, Rhein. Mus.
f. Philol. 95 (1952), 193 ff. die got. Verhältnisse
ganz anders deuten: das zuerst nur im Pl. ge-
brauchte Wort bōkōs habe nur ‚Schriftstück(e)‘
bezeichnet (es ist möglich, daß auch im Got. das
alte Wort für ‚Buchstabe‘, d. h. ‚Rune‘, *stafs ge-
wesen ist; vgl. aisl. stafr und s. Feist, a. a. O.
446 f.; E. Ebbinghaus, GL 21 [1981], 194 ff.);
da Wulfila gr. γράμματα pl. mit bōkōs pl. über-
setzte, habe er γράμμα sg. mechanisch mit bōka
sg. übersetzt. Es handelte sich nämlich nicht um
Runen, sondern um die einzelnen Bestandteile
der neuen Schrift, wofür wohl kein altes Wort
vorhanden war (im Wgerm. hat man dafür eine
neue Zss. ‚Buchstabe‘ geschaffen; → buohstab).
Die aus dem Got. entlehnten slav. Wörter aksl.
ksl. bukъvi f.pl. ‚Schrift, Urkunde, Brief, Buch‘,
ksl. auch ‚Buchstaben‘, russ. ukrain. bulg. búkva
‚Buchstabe‘ usw. hätten auch diese typisch got.
Doppelbed. übernommen (vgl. Sadnik-Aitzet-
müller, Handwb. zu d. aksl. Texten 14. 219;
dies., Vgl. Wb. d. slav. Spr. Nr. 348; Stender-
Petersen, Slav.-germ. Lehnw. 447 ff.).
Diese Deutung wird dadurch bestätigt, daß das
Wort in den anderen germ. Sprachen nie ‚Buch-
stabe‘ bedeutet; die einzige scheinbare Ausnah-
me im Ahd. ist in Wahrheit wohl keine, sondern
nur die mechanische Wiedergabe des lat. litterae
pl. ohne Berücksichtigung der Bed.: in Gl.
1, 247, 31 beruht die nur in der Hs. K vorkom-
mende Glosse sallaba nemnunga end kimahhitha
poahho auf dem Abba-Glossar: Syllaba: compre-
hensio litterarum, vel vocabula (Corp. Gl. Lat.
IV, 285, 14). Im Sg. wird littera auch im Abro-
gans (1, 160, 30) mit buohstab wiedergegeben (s.
Splett, Abrogans-Studien 364 f.). Man vgl. die
umgekehrte mechanische Übersetzung von lat.
litterae ‚etwas Geschriebenes‘ mit ‚Buchstaben‘
in Tatian 88, 13 und 108, 3 (→ buohstab).
Vieles spricht dagegen für die übliche Verknüp-
fung dieses Wortes mit dem Wort für ‚Buche‘:
daß man früher auf Holztafeln (mit oder ohne
Wachs) schrieb, ist außer Zweifel (vgl. bes. Ro-
senfeld, a. a. O.; Trübners Dt. Wb. I, 451); daß
die Germanen das leicht zu spaltende Holz der
heimischen Buche dafür benutzten, läßt sich
nicht beweisen, ist aber sehr wahrscheinlich. Es
ist auch wohl kein Zufall, daß später, nachdem
die zusammengebundenen Holztafeln durch
Pergament-Codices ersetzt worden waren, die
beiden als Deckel erhalten gebliebenen äußeren
Bretter bis ins 16. Jh. hinein fast immer aus Bu-
chenholz waren (Rosenfeld 206). Für eine der-
artige Benennung eines Gegenstands nach dem
Herstellungsmaterial gibt es bekanntlich mehre-
re Beispiele: lat. liber ‚Bast‘ > ‚ein Baststück mit
dem darauf Geschriebenen‘; gr. βίβλος ursprl.
‚Papyrusbast‘; das oben erwähnte aind. bhūrjá-
‚Birkenrinde zum Schreiben‘, auch ‚Schrift-
stück, Urkunde‘. Auch in anderen Sachbezirken
bieten sich weitere Beispiele: mhd. asch ‚die
Esche‘, auch ‚Speer, Schiff, Schüssel‘ (→ asc);
aisl. eikja ‚Einbaum, kielloses Boot‘ (eigtl. ‚aus-
gehöhlter Eichenbaum‘), nnorw. eikja, nschwed.
eka, ndän. ege ‚flaches Flußschiff‘ usw. Solche
Wörter gehören übrigens nicht nur zum beson-
deren Wortschatz der Heldendichtung (s. Eb-
binghaus, GL 22, 101).
Diese Verknüpfung des Wortes ‚Buch‘ mit dem
Wort ‚Buche‘ steht auch damit im Einklang, daß
germ. *ōk- sowohl allein als auch in Zss. wie
ahd. buohstab, aisl. bókmál ‚gelehrte Sprache,
Latein‘ offenbar nichts mit den Runen zu tun
hat, sondern eher mit der lat. Schrift verbunden
ist, die unter den führenden Schichten der Ger-
manen wohl viel früher im Gebrauch war, als
man bisher glaubte (vgl. bes. Rosenfeld, a. a. O.
197—204).
Auch die andere weniger wahrscheinliche, aber nicht
ohne weiteres abzulehnende Deutung von germ. *ōk-
als ‚Buchstabe‘ = ‚Rune‘ würde die Verknüpfung mit
‚Buche‘ nicht ausschließen. Daß Holzstäbe mit Runen
(oder mit je einer Rune) zur Wahrsagerei und ähnli-
chen Zwecken gebraucht wurden, wird allgemein an-
erkannt (vgl. E. Seebold in B. Brogyanyi und Th.
Krömmelbein [Hrsg.], Germanic Dialects: Ling. and
Philol. Investigations [Amsterdam, 1986], 525 ff.).
Zwar läßt sich nicht beweisen, daß diese Stäbe aus Bu-
chenholz waren, aber Buchenzweige waren bestimmt
dazu geeignet, und die Ähnlichkeit mit dem Baumna-
men ist kaum nur zufällig. Seebold (Etymologie 291 f.,
Kluge²² 111) deutet *ōk- dagegen als ‚Loszeichen‘
und vergleicht aind. bhāgá- ‚Anteil, Los usw.‘, av. bā-
ga- ‚Teil, Los, Glück‘ (zustimmend Pfeifer a. a. O.),
eine Deutung, bei der *ā der germ. und indoiran. Vor-
form wegen der Basis *bhag- wie im Falle der uridg.
Baumbezeichnung *bhāgos (→ buocha) Schwierigkei-
ten bereiten würde (s. Mayrhofer, Et. Wb. d. Altin-
doar. II, 260). Interessanterweise hat E. Leumann,
Zfvgl.Spr. 57 (1929), 190 eine ähnliche Etym. für ‚Bu-
che‘ vorgeschlagen: die Buche heiße ‚der Losbaum‘,
„weil seine Reiser mit den eingeritzten Zeichen (unsern
‚Buchstaben‘) zur Bestimmung des Loses verwendet
wurden“. So sind wir am Ende zum ‚Baum‘ zurückge-
kehrt.
Sicher verfehlt ist H. Kuhns zögernder Vorschlag,
germ. *ōk- mit ahd. bouchan (s. d.), as. bōkan, ae.
bēacen ‚Zeichen‘ zu verknüpfen (Neckel-Festschrift
[Leipzig, 1938], 54 ff. = Kleinere Schriften III [Berlin,
1972], 469 ff.). Ebenso unwahrscheinlich ist seine
These, das Wort sei zuerst von Wulfila gebraucht,
dann von den anderen germ. Völkern aus dem Got.
entlehnt worden.